→ Definition: Beim Hypoparathyreoidismus handelt es sich um eine Unterfunktion der Nebenschilddrüsen aufgrund einer verminderten bzw. fehlenden Produktion an (intaktem) Parathormon. Klinische Folge ist die Entwicklung einer hypokalzämischen Tetanie. Besteht eine Endorganresistenz manifestieren sich die gleichen klinischen Beschwerden, jedoch ohne das Parathormon (iPTH) wirklich fehlt. Diese Störung wird als Pseudohypoparathyreoidismus bezeichnet.
→ Epidemiologie: Generell stellt der Hypoparathyreoidismus eine seltene Erkrankung dar; insbesondere Nebenschilddrüsenaplasie und Pseudohypoparathyreoidismus sind Raritäten. Häufigste Ursache des Hypoparathyreoidismus im Erwachsenenalter ist der iatrogene Verlust von funktionellem Nebenschilddrüsengewebe infolge einer Schilddrüsenresektion oder als Folge der Behandlung eines primären - bzw. tertiären Hyperparathyreoidismus. So liegt die jährliche Inzidenz für einen Hypoparathyreoidismus nach > 100000 Struma-Operationen bei 1000-1500 Patienten.
→ Ätiologie:
→ I: Im Vordergrund der Nebenschilddrüsen-Unterfunktion steht die Schilddrüsenoperation (häufig kommt es jedoch innerhalb weniger Tage zu einer Regeneration, sodass man von einem transienten Hypoparathyreoidismus spricht; kann jedoch auch permanent bestehen).
→ Klinisch-relevant: Bestehen nach einer Schilddrüsenoperation klinische Symptome wie Parästhesien oder Tetanie muss immer auch an einen postoperativen Hypoparathyreoidismus gedacht werden.
→ II: Seltene Ursachen: Für einen Mangel an Parathormon sind u.a.:
→ 1) Iatrogener Hypoparathyreoidismus infolge von autoimmunologischen Prozessen durch destruierende Antikörper gegen das Nebenschilddrüsengewebe. Diese Form ist nicht selten mit weiteren Endokrinopathien oder mit der polyendokrinen Autoimmuninsuffizienz assoziiert.
→ 2) Sehr seltene angeborene Aplasie der Nebenschilddrüsen und des Thymus im Rahmen des DiGeorge-Syndroms.
→ 3) Schädigung der Nebenschilddrüsen aufgrund einer Bestrahlung.
→ 4) Pseudohypoparathyreoidismus: Hierbei handelt es sich um eine Endorganresistenz bei adäquater Parathormon-Produktion.
→ 5) Pseudoidiopathischer Hypoparathyreoidismus: Bei dieser Form wird ein biologisch inaktives Parathormon synthetisiert (es wird eine Mutation im PTH-Gen angenommen). Die Serumkonzentration liegt zumeist im Normbereich.
→ Pathogenese:
→ I: Pathogenetisch kommt es zu einer Verminderung bzw. zum Ausfall der PTH-Sekretion aufgrund einer fehlenden Organanlage, eines Gewebeuntergangs oder chirurgischen Entfernung der Schilddrüse bzw. Nebenschilddrüsen.
→ II: Es resultiert eine Hypokalzämie in Verbindung mit einer Hyperphosphatämie.
→ III: Klinisches Korrelat ist das Tetanie-Syndrom mit gesteigerter neuromuskulärer Erregbarkeit aufgrund einer verminderten Konzentration des ionisierten Kalziums sowie einer Verkalkung der Organe (insbesondere Basalganglien, Augenlinse und Gefäße).
→ Klassifikation: Der Hypoparathyreoidismus wird grundsätzlich in eine kongenitale primäre - und eine sekundäre erworbene Form unterteilt (ist die Ursache nicht genau geklärt wird von einem idiopathischen Hypoparathyreoidusmus gesprochen):
→ I: Primärer Hypoparathyreoidismus: Insgesamt vier Krankheitsbilder (autoimmuner Hypoparathyreoidismus, DiGeorge-Syndrom, Kenny-Linarelli-Syndrom und der autosomal-dominante Hypoparathyreoidismus) zählen zu dieser Form und treten nur sehr selten auf.
→ 1) Der autoimmune Hypoparathyreoidismus manifestiert sich im Rahmen eines polyglandulären Autoimmunsyndroms (APECED = Autoimmune-Polyendocrinopathy-Candidiasis-Ectodermal-Dystrophy). Bei diesem Krankheitsbild werden 2 Typen unterschieden, wobei nur der Typ I (familiär autosomal-rezessiv oder sporadisch) neben weiteren Störungen wie perniziöse Anämie, Hashomoto-Thyreoiditis, Diabetes mellitus Typ I, frühzeitige Ovarialinsuffizienz und einer mukokutanen Kandidiose einen Hypoparathyreoidismus aufweist.
→ 2) DiGeorge-Syndrom: Bei diesem Syndrom kommt es zu einer Agenesie der Nebenschilddrüsen und des Thymus aufgrund einer Anlagestörung der 3. und 4. Schlundtasche. Zusätzlich können faziale Dysplasie, kardiale Missbildungen und Immundefekte auftreten.
→ 3) Weitere Formen des primären Hypoparathyreoidismus sind das Kenny-Linarelli-Syndrom und der autosomal-dominante Hypoparathyreoidismus.
→ II: Sekundärer Hypoparathyreoidismus: Häufigste Ursache für die sekundäre Form ist die operative Destruktion (durch z.B. Devaskularisation, Ischämie, etc.) oder Entfernung der Nebenschilddrüsen. Weitere Gründe sind u.a. Primärtumoren der Parathyreoidea, Tumoren anderer Genese, Metastasen, aber auch nach Radiatio, Radiojod- und Chemotherapie, etc.
→ Klinik:
→ I: Hypokalzämische Tetanie: Stellt das Leitsymptom des persistierenden Hypoparathyreoidismus dar.
→ 1) Mit gesteigerter Erregbarkeit, Hyperreflexie, Pfötchenstellung, evtl. Stimmritzenkrampf (Krämpfe der Bronchien und Atemmuskulatur) sowie zerebrale Krampfanfälle bei erhaltenem Bewusstsein. Der Tetanie geht häufig eine Aura mit Parästhesien, Angst und Muskelschmerzen voraus.
→ 2) Chvostek-Zeichen: Beim Beklopfen des N. fascialis bzw. seiner Äste im Bereich der Austrittsstelle aus der Parotis (Wangen) wird im positiven Fall ein Zucken der Mundwinkel bzw. Oberlippe ausgelöst.
→ 3) Trousseau-Zeichen: Ist positiv, wenn es nach mehr-minütiger Kompression des Armes durch eine Blutdruckmanschette zur Pfötchenstellung bzw. Geburtshelferstellung der Hand kommt.
→ 4) Evtl. Laryngospasmus mit konsekutivem Stimmritzenkrampf kann zu Bewusstlosigkeit und zerebralen Hypoxie führen.
→ II: Kardiale Symptome: Die Hypokalzämie induziert eine Störung des kardialen Reizleitungssystems mit Verlängerung der QT-Zeit und konsekutiver Gefahr der Entwicklung von schweren Herzrhythmusstörungen wie ventrikuläre Tachykardien und das Torsades-de-pointes-Syndrom.
→ III: Psychiatrische Symptome: Wie Reizbarkeit, depressive Verstimmungen, Depression, aber auch Wesensveränderungen und Psychosen.
→ IV: Weitere Symptome: Insbesondere bei langfristig bestehendem Hypoparathyreoidimus können sich z.T. schwere Organschäden manifestieren; hierzu zählen:
→ 1) Nagel- und Haarwuchsstörungen mit Alopezie, Hautatrophie, Zahnentwicklungsstörungen und Minderwuchs bei Kindern.
→ 2) Tetanischer Katarakt: Verkalkung der Augenlinse aufgrund einer stark schwankenden Hyperphosphatämie.
→ 3) Morbus Fahr: Symmetrische Verkalkung der Basalganglien mit athetotischen und dystonischen extrapyramidal-motorischen Bewegungsstörungen sowie psychischen Störungen.
→ Diagnose:
→ I: Anamnese/klinische Untersuchung: Prüfung des Chvostek-, Trousseau- und Lust-Zeichen (= Heben des äußeren Fußrandes beim Beklopfen des N. fibularis hinter dem Fibulaköpfchen) als Zeichen der Hyperreflexie bei Hypokalzämie.
→ II: Labor:
→ 1) Der Nachweis einer Hypokalzämie in Verbindung mit einer Hyperphosphatämie bei normalem Kreatinin (DD. Niereninsuffizienz) und Albuminspiegel (DD. Malassimilationssyndrom) macht die Diagnose des Hypoparathyreoidismus wahrscheinlich. Ein erniedrigter Parathormonspiegel bestätigt die Diagnose.
→ 2) Urinbefundung mit Bestimmung von Kalzium, Phosphat und cAMP.
→ III: EKG: Evtl. Zeichen einer Hypokalzämie mit charakteristischer Verlängerung des QT-Intervalls (EKG-Befund Hypokalzämie) und eine Inversion oder Erhöhung der T-Welle.
→ Differenzialdiagnose: Vom Hypoparathyreoidismus abzugrenzen sind u.a. nachfolgende Erkrankungen:
→ I: Albright-Syndrom: (= Pseudohypoparathyreoidismus). Sowohl die klinische Symptomatik als auch die laborchemischen Veränderungen sind sehr ähnlich; jedoch ist das PTH im Vergleich zum Hypoparathyreoidismus deutlich erhöht. Die Störung der Parathormon-Wirkung kann in seltenen Fällen zum charakteristisch veränderten Körperbau mit Kleinwuchs, Rundgesicht, Pubertas praecox und subkutanen Knötchen führen.
→ II: Neuropsychiatrische Erkrankungen: Psychogene Hyperventilation, zerebrale Tetanie bei hirnorganischen Erkrankungen.
→ III: Internistische Erkrankungen: Chronische Niereninsuffizienz, akute Pankreatits, Malabsorptionssyndrom, Peritonitis, Hepatopathien (in Verbindung mit Hypalbuminämie),
→ IV: Elektrolytverschiebungen: Hypomagnesiämie, schwere Hypokaliämie.
→ V: Intoxikationen: Mit Atropin, Blei oder Strychnin.
→ Therapie: Bei der Behandlung des Hypoparathyreoidismus stehen insbesondere 2 Therapieoptionen zur Verfügung:
→ I: Akuttherapie: Im tetanischen Anfall erfolgt nach Blutentnahme (zu exakten Diagnosestellung) die langsame Applikation von 10-20ml eines10%-igen Kalziumglukonats in einer z.B. 5%igen Glukoselösung (ein Überschreiten der Maximaldosis von 15mg Ca2+/kgKG/h sollte unbedingt vermieden werden) bis die klinische Symptomatik remittiert.
→ Klinisch-relevant: Bei digitalisierten Patienten ist eine besonders langsame Applikation der Kalziumlösung obligat, um eine mögliche vital-bedrohliche Hyperkalzämie mit konsekutiver Zunahme der Digitalis-Empfindlichkeit zu vermeiden.
→ II: Langzeittherapie:
→ 1) Hierbei steht die Anhebung der Kalziumkonzentration in den unteren Normbereich durch z.B. zusätzliche Applikation eines Vitamin-D-Analogas, wie Calcitriol, in einer Dosierung von 0,25-0,5µg/d im Vordergrund.
→ 2) Sinkt der Serumphosphat-Spiegel unter dieser Behandlung nicht, ist die Gabe eines Phosphat-Binders zu erwägen.
→ Klinisch-relevant: Bei erhöhten Kalzium-Konzentrationen besteht die Gefahr der Entwicklung von Nephrolithiasis und Nephrokalzinose mit Verschlechterung der Nierenfunktion.
→ Prognose: Die Prognose des Hypoparathyreoidismus ist gut und führt zumeist zu Beschwerdefreiheit; insbesondere wenn regelmäßige Kontrollen der Kalzium- und Phosphat-Konzentration in Blut und Urin erfolgen. Unbehandelt können sich Spätkomplikationen manifestieren.