→ Definition: Beim frühkindlichen Autismus handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die durch eine angeborene Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung in den Bereichen soziale Interaktion, Verhalten, Sprache und Kommunikation charakterisiert ist und sich definitionsgemäß vor dem 3. Lebensjahr manifestiert.
→ Epidemiologie:
→ I: Nach neueren Daten liegt die Prävalenz bei 10-15/10000 Neugeborenen.
→ II: Das Kanner Syndrom ist gekennzeichnet durch seinen frühzeitigen Krankheitsbeginn innerhalb der ersten Lebensmonate bis zum 3. Lebensjahr.
→ III: Jungen erkranken deutlich häufiger als Mädchen, mit einer Verteilung von etwa 3 : 1.
→ Ätiopathogenese: Bis heute fehlen eindeutige Erklärungsmodelle für die Ätiologie und Pathogenese. Man geht jedoch von einer biologischen Pathogenese mit insbesondere genetischen Ursachen aus (= polygene Vererbung mit Beteiligung von 6-10 Genen). So zeigt sich im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung ein 50-100mal erhöhtes Erkrankungsrisiko bei Geschwistern von Patienten mit Kanner-Syndrom. Hierbei ist nicht nur das Vollbild der Erkrankung impliziert, sondern auch einzelne Merkmale wie Kontaktstörungen, stereotype Verhaltensweisen, kognitive Einschränkungen etc.
→ Klinik: Charakteristischerweise entwickelt sich die klinische Symptomatik vor dem 3. Lebensjahr und persistiert während der gesamten Lebenszeit mit möglichen Veränderungen des Ausprägungsgrades. Das Störungsbild ist u.a. gekennzeichnet durch:
→ I: Soziale Interaktion: Qualitative Auffälligkeiten der sozialen Interaktion mit:
→ 1) Funktionsstörungen in der nonverbalen sozialen Interaktion mit Vermeidung von Blickkontakt, fehlender Entwicklung eines sozialen Lächelns und nicht zuletzt der differenzierten Mimik und Gestik zur Expression von Emotionen.
→ 2) Der Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen ist deutlich gestört, insofern als dass das Interessen an Mitmenschen fehlt bzw. nur als Werkzeug im Sinne als „Mittel zum Zweck“ dienlich ist. Im Spiel mit Gleichaltrigen reagieren Kinder mit Autismus nicht oder abwehrend; folglich werden keine Freundschaften geschlossen.
→ 3) Weitere Auffälligkeiten: Sind u.a. Unfähigkeit Freude oder Leid mit anderen zu teilen sowie das Fehlen eines emotional wechselseitigen Mitgefühls.
→ II: Sprach/Kommunikation: Wichtige qualitative Auffälligkeiten sind hierbei:
→ 1) Etwa die Hälfte der Kinder mit frühkindlichem Autismus erlernen keine Sprache.
→ 2) Charakteristischerweise können die sprachlichen Defizite nicht durch eine nonverbale Kommunikation (Gestik, Mimik) kompensiert werden.
→ 3) Vielfach zeigen sich Neologismen, Echolalie, stereotype Wort und Satzfolgen sowie Störungen der Intonation und des Sprachrhythmus.
→ III: Interesse/Verhaltensmuster:
→ 1) Kinder mit frühkindlichem Autismus haben ein ängstlich-, zwanghaftes Bedürfnis nach Gleicherhaltung der eigenen (dinglichen) Umwelt.
→ 2) Auch manifestieren sich Störungen in der Reaktion auf Sinnesreize wie z.B. fehlende Reaktion auf Geräusche und Sprache, aber auch selektive oder totale Geräuschüberempfindlichkeit.
→ 3) Zudem existieren zahlreiche Stereotypien im Bereich der Sinne wie z.B. Schlagen der Hände auf die Ohren, Augenbohren, etc., aber auch begrenzte Spezialinteressen.
→ 4) Zumeist lehnen die Betroffenen Berührungen und Zärtlichkeiten ab; es kann aber auch ein distanzloses Verhalten bestehen (Kind setzt sich auf den Schoß einer völlig fremden Person).
→ Krankheitsverlauf: Die Kernsymptomatik des frühkindlichen Autismus weist eine deutliche Variabilität auf, persistiert jedoch bis ins Erwachsenenalter. In der Mehrzahl der Fälle verbessert sich die im weiteren Krankheitsverlauf die Symptomatik, insbesondere in den Bereichen von Kontakt- und Sozialverhalten, sodass gewisse Alltagsfertigkeiten besser bewältigt werden können.
→ Komborbiditäten: Der frühkindliche Autismus zeigt besonders oft Assoziationen mit weiteren psychischen Störungen und evtl. mit organischen Syndromen auf; hierzu zählen u.a.:
→ I: Am häufigsten mit Intelligenzminderung (65-90% der Fälle) und Epilepsie (vermehrter Beginn im frühen Erwachsenenalter).
→ II: Hyperaktivität und affektive Störungen.
→ III: Tic-Störungen und Zwangsstörungen.
→ IV: Aggressive und autoaggressive Reaktionstendenzen mit der Gefahr der richterlichen Unterbringung.
→ V: Weitere Komorbiditäten: Wie
→ 1) Störungen des Schlaf- Wachrhythmus,
→ 2) Phobien insbesondere isolierte Phobien, etc.
→ VI: Organische Syndrome wie die Neurofibromatose, Williams-Beuren-Syndrom, Angelman-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom, etc.
→ Diagnose:
→ I: Anamnese, insbesondere auch die Fremdanamnese mit Exploration der Entwicklungsgeschichte und anschließender Beobachtung des Kindes in den verschiedenen Situationen. Zudem weitere kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik zur Erfassung von Komorbiditäten und Begleitstörungen. Innerhalb der Diagnose des frühkindlichen Autismus unterscheidet man klinisch noch zwischen:
→ II: Psychologische Testverfahren: Sie dienen in Form von standardisierten Interviews als diagnostische Hilfsmittel; zu ihnen zählen u.a.:
→ 1) Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen (= ADOS).
→ 2) Diagnostische Interview für Autismus, ab dem 2. Lebensjahr, revidiert (= ADI-R).
→ 3) Fragebogen zur sozialen Kommunikation (= FSK).
→ III: Weitere Untersuchungen: Eingehende pädiatrische Untersuchung einschließlich Bildgebung, EEG, molekulargenetischer Tests, etc.
→ Differenzialdiagnose: Vom Kanner-Syndrom müssen insbesondere nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden:
→ I: Weitere tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie z.B. das Asperger-Syndrom, Rett-Syndrom, etc.
→ II: Allgemein Störungen der Intellegenzentwicklung und Sprach-.
→ III: Selektiver Mutismus.
→ IV: Desintegrative Psychosen bei der sehr seltenen frühkindlichen Schizophrenie, aber auch elektiver Mutismus.
→ V: Seh- und Hörstörungen (sie teilen sich jedoch zumeist durch Mimik, Gestik oder Gebärden mit).
→ Therapie: Eine kausale Behandlung der autistischen Kernsymptomatik ist bis heute nicht möglich, sodass die Interventionen insbesondere auf die Verbesserung der sozialen Interaktionen zur zunehmenden Selbstständigkeit, Anpassung an die Alltagsanforderungen und mögliche komorbide Störungen abzielen.
→ I: Verhaltenstherapie:
→ 1) Hierbei spielen frühzeitiger Therapiebeginn, Psychoedukation von Bezugspersonen über die Art der Erkrankung, verhaltenstherapeutische Techniken hinsichtlich der Kernsymptome sowie die Behandlung begleitender Entwicklungsstörungen und weiterer Erkrankungen eine wesentliche Rolle.
→ 2) Im Krankheitsverlauf können die verschiedenen Behandlungssettings von ambulant auf teil- oder vollstationär in Abhängigkeit von der aktuellen Problematik wechseln.
→ 3) Auch ist die Unterstützung und Entlastung der Familie ein bedeutender Bestandteil der Therapie.
→ II: Pharmakotherapie:
→ 1) Stimulanzien bei Konzentrationsstörungen und Hyperaktivität.
→ 2) Atypische Neuroleptika zur Verringerung der Aggressivität.
→ 3) SSRI zur Reduktion der Impulsivität und Ritualisierung.
→ 4) Ggf. Stimmungsstabilisierer zum Stimmungsausgleich und evtl. zur Verminderung von Aggressivitätszuständen.
→ 5) Bei Anfallsleiden (Epilepsie) sind Antiepileptika indiziert.
→ III: Weitere Maßnahmen:
→ 1) Krankengymnastik und ergotherapeutische Maßnahmen bei motorischen Defiziten.
→ 2) Eingliederungshilfe sowie ggf. berufliche Eingliederung in spezifischen Werkstätten als rehabilitative Maßnahme.
→ Prognose:
→ I: Beim frühkindlichen Autismus sind die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten auf Dauer beeinträchtigt.
→ II: Nicht selten kommt es im Krankheitsverlauf zur Symptombesserung (jedoch sind in der Adoleszenz auch Verschlechterungen bekannt).
→ III: Langfristig leben 1/4 der Betroffenen in beschützten Institutionen und nur 1/10 können als Erwachsene selbstständig leben.