Definition:

→ I: Depersonalisation: (= Entfremdungsgefühl gegenüber dem eigenen Körper und der Identität) Bei der Depersonalisation handelt es sich um eine Störung des Einheitserlebens der Person bezüglich des Augenblicks, der eigenen Identität sowie der Zeit der Biographie. Die Person kommt sich selbst unwirklich, fremd wie ein anderer und uneinheitlich vor.

→ II: Derealisation: (= Enfremdungsgefühl gegenüber der Umgebung) Bei dieser Störung nimmt die betroffene Person die Gegenstände und Umgebung als unwirklich und fremdartig wahr. Folglich wirkt die eigene Umwelt nicht mehr als vertraut.

→ III: Sie treten zumeist zusammen auf, können sich aber auch getrennt manifestieren. Jedoch ist in beiden Fällen das Realitätsurteil intakt. Die subjektiven Wahrnehmungsveränderungen werden als sehr unangenehm und nur schwer zu verbalisieren empfunden.

659 Wichtige Entfremdungserlebnisse

 

Epidemiologie:

→ I: Die Prävalenz für die Depersonalisation bzw. Derealisation liegt in der Allgemeinbevölkerung bei 1-3%; werden jedoch mildere Ausprägungsformen hinzugezählt liegt sie deutlich höher.

→ II: Der Manifestationsgipfel liegt zwischen dem 15.-30. Lebensjahr, wobei keine relevanten Unterschiede in der Geschlechterverteilung bestehen.

 

→ Ätiopathogenese: Bei dem Depersonalisations- bzw. Derealisationssyndrom wird eine multifaktorielle Genese diskutiert (sie können isoliert oder im Rahmen verschiedener psychischer Erkrankungen auftreten):

→ I: Neurobiologische Faktoren: Es kommt zu einer Störung der normalen emotionalen Reagibilität mit Verlust der emotionalen Wahrnehmung bezüglich der eigenen Person (= Depersonalisation), des Körpers und der Umwelt (= Derealisation).

→ II: Neuroanatomische Faktoren: Anatomische und physiologische Läsionen im Bereich des Temporallappens.

III: Psychologische Faktoren: Insbesondere im Rahmen von traumatischen Erfahrungen (z.B. in Form interpersonaler Traumatisierungen in der frühen Entwicklung) sowie schweren emotionalen oder somatischen Belastungen treten nicht selten pathogenetischen Depersonalisations- und Derealisationsphänomene auf.

→ IV: Psychodynamische Faktoren:

→ 1) Abwehrbedingte Spaltung zwischen erlebenden und beobachtenden Ich-Funktion mit einer distanzierten Sicht auf das Selbst.

→ 2) Intrapsychische Abwehr von schmerzhaften, beschädigenden und konflikthaften Affekten.

→ V: Weitere Faktoren: Sind u.a.:

→ 1) Somatische Erkrankungen: Wie v.a. Epilepsie, Schädel-Hirn-Trauma, Klein-Levin-Syndrom und nicht zuletzt die Migräne sowie vestibuläre Störungen.

→ 2) Medikamente wie Antihistaminika, Benzodiazepine, Indometacin, aber auch psychotrope Substanzen wie Alkohol, Cannabis oder LSD.

 

Komorbidität: Depersonalisation und Derealisation sind zudem Symptome einer Vielzahl von psychischen Erkrankungen; hierzu zählen insbesondere:

I: Angst- und Panikstörungen,

→ II: Affektive Störungen insbesondere die Depression.

→ III: Persönlichkeitsstörungen v.a. die Borderline-PS.

IV: Beginnende Schizophrenie und die schizotype Störung.

→ V: Dissoziative Störung (Konversionsstörung).

→ VI: Substanzabhängigkeit und Entzugssyndrom und nicht zuletzt

→ VII: Andauernde Persönlichkeitsänderungen nach Extrembelastungen und die posttraumatische Belastungsstörung.

 

Klinik: Charakteristische Symptome beim Derealisations- und Depersonalisationssyndrom sind u.a.:

I: Im Allgemeinen kann gesagt werden, das beide Phänomene Entfremdungserlebnisse ohne Realitätsverlust darstellen; Die veränderten Wahrnehmungen werden nicht als fremdbeeinflusst oder von außen gemacht erlebt.

→ II: Die Betroffenen haben das Gefühl, dass

→ 1) Ihnen ihr Körper nicht mehr gehört,

→ 2) Die eigene Stimme und ihr Spiegelbild fremd sind.

→ III: Das Handeln ist mechanisch, der Kranke sieht sich als teilnahmsloser Zuschauer.

IV: Weitere Symptome: Sind u.a.:

→ 1) Begleitaffekte sind tiefgründige Beschämung, Angst vor körperlichem und geistigem Kontrollverlust.

→ 2) Des Weiteren gehen die Depersonalisations- und Derealisationsphänomene mit diffusen Somatisierungsstörungen, Benommenheit, Schwindelgefühl und Verlust der Zeitwahrnehmung einher.

466 Klinische Symptomatik des Depersonalisations  und Derealisationssyndrom

 

Diagnose:

→ I: Anamnese/klinische Untersuchung:

→ 1) Der Nachweis für das Vorliegen einer Depersonalisations- und Derealisationsstörung sind u.a. das rezidivierende oder persistierende Gefühl der Selbstentfremdung bzw. die veränderte Wahrnehmung der Umwelt; einen erheblichen Einfluss der Störung auf das seelische Befinden und psychosoziale Leben ist zur Diagnosestellung obligat. Diesbezüglich muss eine sorgfältige Exploration der Symptomatik, Triggermechanismen und möglicher psychischer Komorbiditäten erfolgen.

→ 2) Die klinische Diagonstik beinhaltet vor allem eine umfangreiche internistische und neurologische Untersuchung mit CT/MRT-, EEG-Status und einem Medikamenten- und Drogenscreening.

→ II: Testpsychologische Verfahren: Zur Unterstützung der Diagnose „Depersonalisations-/Derealisationssyndrom" wurden insbesondere strukturierte klinische Interviews entwickelt; hierzu zählen u.a.:

→ 1) Strucured-Clinical-Interview-for-Dissociative-Disorder,

→ 2) Structured-Clinical-Interview for Depersonalization-Derealizeation-Syndrom sowie

→ 3) Cambridge-Depersonalization-Scale (= Selbstbeurteilungsverfahren).

660 Diagnosekriterien des Derealisations  und Depersonalisationssyndrom

 

Differenzialdiagnose: Vom Depersonalisations- und Derealisationssyndrom müssen insbesondere nachfolgende Störungen abgegrenzt werden:

→ I: Neurologische Erkrankungen: Wie Temporallappenepilepsie (Epilepsie allgemein), Gehirntumoren, zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie Enzephalitis unterschiedlicher Genese.

II: Psychischtrische Erkrankungen: Depersonalisations- und Derealisationsphänomene manifestieren sich häufig im Rahmen von Angst- und depressiven Störungen; zudem muss auch die dissoziative Störung ausgeschlossen werden.

→ III: Endokrinologische Störungen: Wie Hypoparathyreoidismus, Hypothyreose aber auch Hypoglykämie.

→ III: Substanzinduziert: Hierzu zählen vor allem LSD und Cannabis.

IV: Die Intaktheit des Realitätsurteils ist ein wichtiges abgrenzendes Kriterium gegenüber den Psychosen.

 

 

Therapie: Im Mittelpunkt der Behandlung des Depersonalisations- und Derealisationssyndroms stehen vorzugsweise die kognitive Verhaltenstherapie sowie eine pharmakologische Behandlung mit einem Antidepressivum (vor allem die SSRI).

 

Prognose:

→ I: Obwohl der Krankheitsbeginn zumeist als plötzlich beschrieben wird, existieren auch sich einschleichende Krankheitsverläufe.

→ II: Insbesondere die primären Depersonalisations-/Derealisationssyndrome weisen einen chronisch-persistierenden Verlauf sowie eine erhöhte Suizidalität auf.