Allgemein:

→ I: Bei der Humeruskopffraktur kann sich im Rahmen eines Traumas durch Schädigung der vorderen/hinteren A. circumflexa (aufsteigender Ast dringt im Sulcus bicepitis in den Knochen) eine avaskulärer Nekrose entwickeln.

→ II: Sie macht 4-5% aller Frakturen aus, wobei gerade ältere Menschen (> 60. Lebensjahr, Osteoporose-Patientinnen) betroffen sind.

→ III: Besonders häufig zieht die Fraktur durch das Collum chirurgicum.

 

Ätiologie: Allgemein infolge eines adäquaten Traumas durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung (im Alter bei osteoporotisch verändertem Knochen):

→ I: Indirekt durch Sturz auf die ausgestreckte Hand oder den Ellenbogen, bzw. direkter Sturz auf das Schultergelenk; es sind insbesondere ältere Menschen mit osteoporotischen Knochenveränderungen betroffen.

→ II: Abrissfrakturen des Tuberculum majus bzw. minus findet man oftmals auch bei der vorderen oder hinteren Schulterluxation.

 

Klassifikation:

→ I: Klassifikation nach Neer: Sie bezieht die 4 Hauptfragmente des Humeruskopfes (also die Kalotte, das Tuberculum majus und - minus sowie den Humerusschaft) mit ein.

1) Neer 1: Nicht dislozierte oder nur minimal dislozierte Fraktur; sie kann alle Fragmente beinhalten.

→ 2) Neer 2: Fraktur verläuft durch das Collum anatomicum.

3) Neer 3: Hierbei handelt es sich um eine 2-Fragmentfraktur und verläuft durch das Collum chirurgicum (ad axim; ad latum)

4) Neer 4: Die Fraktur befindet im Bereich des Tuberculum majus (als 2-Fragmentfraktur); Als 3-Fragmentfraktur in Kombination mit einer Collum chirurgicum-Fraktur; als 4-Fragmentfraktur in Kombination mit einer Collum chirurgicum und einer Tuberculum minus Fraktur.

→ 5) Neer 5: Tuberculum minus Fraktur als 2-Fragmentfraktur; als 3-Fragmentfraktur kombiniert mit einer Fraktur durch den chirurgischen Hals und als 4-Fragmentfraktur wie die 3-Fragment-Fraktur + Fraktur des Tuberculum majus.

→ 6) Neer 6: Sie beinhaltet die Luxationsfrakturen mit vorderer und hinterer Kopfluxation.

713 Klassifikation der Humeruskopffraktur nach Neer

II: AO-Klassifikation:

→ 1) Typ-A-Frakturen: Sie stellen die extraartikuläre Frakturen dar; 2 der 4 Gelenkfragmente sind betroffen. Es besteht kein Nekroserisiko.

→ 2) Typ-B-Frakturen: Frakturen mit partieller Ablösung der Gelenkfragmente (= partiell intraartikulär); 3 von 4 Gelenkfragmente sind betroffen. Es besteht ein leicht erhöhtes Nekroserisiko des Humeruskopfes. 

→ 3) Typ-C-Frakturen: Vollständig intraartikuläre Ablösung der gesamten Gelenkfläche. Das Nekroserisiko ist aufgrund begleitender Gefäßverletzungen deutlich erhöht.

451 Klassifikation der Humeruskopffraktur nach Neer

 

Klinik:

→ I: Ruhe- und Bewegungsschmerz im Schultergelenk; der Arm ist meist adduziert und im Ellenbogengelenk um 90° flexiert.

→ II: Deutliche Weichteilschwellung und Hämatombildung (bis zur Thoraxwand und Ellenbogen) meist erst 24-48 Stunden nach dem Trauma.

→ III: Weitere Symptome sind evtl. Krepitation und Stufenbildung.

 

Komplikationen:

→ I: Schädigung der A. circumflexa mit der Gefahr der Ausbildung einer avaskulären Humeruskopfnekrose.

→ II: Schädigung des Nervus axillaris, der Arteria brachialis oder des Plexus brachialis.

 

Diagnose:

→ I: Anamnese/klinische Untersuchung: Exploration des genauen Unfallhergangs (adäquates Trauma) sowie die DMS-Kontrolle zum Ausschluss einer Läsion des Plexus brachialis (N. axillaris) und der A. axillaris bzw. Arteria circumflexa von großer Bedeutung.

→ II: Bildgebende Verfahren:

→ 1) Röntgen: der Schulter in 2 Ebenen a.p. und Aufnahme nach Neer (Scapula-Y-Aufnahme tangential) sowie die axilläre Aufnahme (= Arm in 45° abduziert, Zentralstrahl auf die Axilla).

→ 2) CT: Ist zur Op-Planung bei Mehrfragmentfrakturen zur exakten Fragmentdislokation indiziert.

→ 3) MRT: Bei nicht eindeutigem Röntgenbefund und Verdacht auf Luxation. Zudem ist das MRT zur Beurteilung der Weichteilverletzung (z. B. Rotatorenmanschette, Sehnen, Labrum etc.) gut geeignet.

 

→ Differenzialdiagnose: Von der Humeruskopffraktur müssen insbesondere nachfolgende Frakturen abgegrenzt werden; hierzu zählen u.a.:

→ I: Schulterluxation,

→ II: Humerusschaftfraktur,

→ III: Rotatorenmanschettenruptur und nicht zuletzt die

→ IV: Skapulafraktur etc.

714 Proximale Humerusfraktur im Kindesalter

 

Therapie:

→ I: Konservativ: Die Indikation besteht bei allen nicht/gering-dislozierte, geschlossenen Frakturen (viele dieser Frakturen können konservativ behandelt werden, da die Frakturfragmente durch Muskeln zusammengehalten werden). Hierbei steht eine nur kurzfristige Ruhigstellung, um einer Bewegungseinschränkung durch Schrumpfung der Schultergelenkkapsel vorzubeugen, im Vordergrund.

→ 1) Desault/Gilchrist-Verband für einige Tage (5-10 Tage) zur Schmerzreduktion, anschließend ist eine

→ 2) Frühfunktionelle physiotherapeutische Behandlung mit Pendelbewegungen indiziert, dann Übergang in aktive Schulterbewegungsübungen (ohne Außenrotationsbewegungen).

→ 3) Alle 2 Woche wird eine Röntgenkontrolle zum Ausschluss einer sekundären Dislokation empfohlen.

→ II: Operativ: Bei Multifragment-, Gelenk-, Luxations-, offenen und dislozierten Frakturen (> 5mm), sowie bei einer Achsenabweichung von > 45° ist eine operative Therapie obligat.

→ 1) Minimal-invasiv: (CRIF = closed-reduction, internal fixation). Hier erfolgt eine geschlossene Reposition und eine perkutane Fixierung mit Kirschner-Draht oder Schrauben-OS.

2) Invasiv: (ORIF = openreduction, internal fixation) Die Reposition und die Osteosynthese erfolgt offen.

→ 3) Deltoidopektoraler Zugang nach Kocher: Zugang der 1. Wahl außer bei der Tuberculum majus Fraktur. Leitstruktur ist die V. cephalica nach lateral. Osteosynthesematerialien sind meist winkelstabile proximale Humerusplatten. Bei Abriss der Tuberculi wird eine Zugurtungsosteosynthese und Schrauben- angewandt.

→ 4) Deltoid-Split: Dieser erfolgt bei der isolierten Abrissfraktur des Tuberculum majus (Bei den oben genannten Operationsverfahren besteht die Gefahr der Verletzung des Nervus axillaris).

5) Intramedulläres Verfahren: Mit einem proximalen Humerusnagel bei Frakturen durch das Collum chirurgicum (subcapital).

→ 6) Endoprothetischer Ersatz bei Trümmerfrakturen.

715 Operative Interventionen abhängig vom Frakturtyp

→ III: Postoperative Komplikationen:

→ 1) Schmerzhafte Bewegungseinschränkung bis hin zur Schultersteife (= frozen shoulder) durch Verklebung des Recessus axillaris bzw. der Kapsel.

→ 2) Läsionen des Nervus axillaris.

→ 3) Posttraumatische Arthrose und nicht zuletzt

4) Humeruskopfnekrose gerade bei den intrakapsulären - und Luxationsfrakturen.

 

Prognose: Die Prognose ist sehr stark vom Frakturtyp abhängig und bei den nicht-dislozierten Frakturen am besten. Als prognostisch ungünstig gelten insbesondere alle intrakapsulären Frakturen (4-Fragment-).