Definition: Die Tibiakopffraktur ist definiert als eine mono- oder bikondyläre Fraktur der proximalen Tibia meist in Verbindung mit Band-, Meniskus- und/oder Knorpelläsionen. Sie ist zumeist intraartikulär lokalisiert.

Ätiologie: Sie entsteht überwiegend durch axiale Kompression z.B. bei Sturz aus hoher Höhe, aber auch durch seitliche Gewalteinwirkung in Kombination mit Rotationskräften sowie bei Varus- oder Valgusstress.

 

Klassifikation:

→ I: AO-Klassifikation: Die AO-Klassifikation unterscheidet zwischen extraartikulären Fakturen (A-Frakturen), unikondylären Spalt- und Impressionfrakturen (B-Frakturen) sowie bikondylären - und Trümmerfrakturen (Typ C).

→ 1) A-Fraktur: (Extraartikulär / machen 10% der Tibiakopffrakturen aus). Hierzu zählen die isolierten Eminentia-Ausrisse (A1), die aufgrund ihrer geringen bzw. fehlenden Beeinträchtigung der Gelenkflächen zu den extraartikulären Frakturen gezählt werden, die A2 und A3-Frakturen, die einfache und Mehrfragment-Frakturen der proximalen Tibiametaphyse darstellen.

→ A1: Abrissfraktur,

→ A2: Metaphysär einfach,

→ A3: Metaphysär mehrfragment.

719 A Frakturen   Proximale Tibia extraartikuläre Frakturen

 

→ 2) B-Fraktur: (Monokondylär / ist mit ca. 60% der häufigste Frakturtyp) Es handelt sich um unikondyläre Spalt- oder Impressionsfrakturen oder einer Kombination aus beiden Formen:

→ B1: Reine Spaltfraktur,

B2: Reine Impressionsfraktur,

→ B3: Impression mit Spaltung.  

720 B Frakturen proximale Tibia partielle Gelenkfraktur

 

→ 3) C-Fraktur: (Bikondyläre intraartikuläre Frakturen) Hierbei handelt es sich um Frakturen, die die gesamten Gelenkfläche sowie die Metaphyse miteinbeziehen und ausschließlich operativ behandelt werden muss.

→ C1: Einfach artikulär, einfach metaphysär,

→ C2: Einfach artikulär, metaphysär mehrfragment, 

→ C3: Mehrfragment artikulär, metaphyär mehrfragment.

721 C Frakturen proximale Tibia vollständig intraartikuläre Frakturen

 

II: Klassifikation nach Moore: Eine weitere Klassifikation bezieht sich auf die Luxationsfrakturen, die 15% der Tibiakopffraktur ausmachen.

1) Typ 1: Spaltbruch der dorsomedialen Tibiakopfkondyle. Häufig besteht eine hintere oder vordere Kreuzbandruptur.

→ 2) Typ 2: Komplette Fraktur eines Kondylus mit Einbeziehung der Eminentia. Hierbei ist bei der medialen Fraktur in 25% bei der lateralen Kondylusfraktur sogar in 50% das vordere Kreuzband betroffen.

→ 3) Typ 3: Knöcherner Ausriss des lateralen Band-Kapsel-Apparates. Nicht selten ist das vordere Kreuzband mitbetroffen.

4) Typ 4: Es handelt sich um eine Randimpressionsfraktur mit meist komplexer Knieinstabilität.

5) Typ 5: Hierbei besteht eine 4-Fragment-Fraktur (= Four-part-fracture) mit Ausriss der Eminentia tibiae.

→ III: Weitere Einteilungen: 

→ 1) Bei den monokondyläre Frakturen werden folgende Typen unterschieden:

→ A) Impressionsfrakturen insbesondere im Bereich des lateralen Tibiakopfes.

→ B) Impressionsfrakturen in Form von Spaltbrüchen und

→ C) Impressions-/Depressionsfrakturen.

→ 2) Randfrakturen: Hierbei handelt es sich zumeist um knöcherne Bandausrisse wie z.B. der Eminentia intercondylaris, des Lig. collaterale mediale et laterale, Ausriss des Tractus iliotibialis etc.

→ 3) Plateaufrakturen: Hierzu zählen die:  

→ A) Nichtdislozierten stabilen Frakturen,

→ B) Depressionsfrakturen,

→ C) Impressionfrakturen. sowie

→ D) Bikondyläre Frakturen (siehe AO-Klassifikation).

→ 4) Luxationsfrakturen: Sie sind zumeist mit ausgedehnten Kapsel-Band-Schädigungen und neurovaskulären Störungen vergesellschaftet.

 

Klinik:

→ I: Schwellung, Schmerzhaftigkeit, Bewegungseinschränkung, Fehlstellung und die mögliche Entwicklung eines Hämatoms.

II: Evtl. Hämarthros (tanzende Patella), Krepitationen oder ossäre Instabilität.

 → III: Begleitverletzungen: Sind häufig:

→ 1) Seitenbandruptur und Kreuzbandruptur,

→ 2) Meniskusläsionen (Lateral in 30% der Fälle, medial in 15%),

→ 3) Gefäß und Nervenläsionen, insbesondere des Nervus peroneus (gerade bei der Typ 5 Luxationsfraktur nach Moore) und

4) Das Kompartmentsyndrom.

 

Diagnose:

→ I: Anamnese/klinische Untersuchung: Die DSM Kontrolle zum Ausschluss von Verletzungen der A./V. poplitea und des N. peroneus ist obligat. Bei Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom evtl. Bestimmung des Logendrucks.

II: Bildgebende Verfahren:

→ 1) Röntgen: Des Kniegelenkes in mindestens 2 Ebenen, meist erfolgen noch Schrägaufnahmen (45°).

→ 2) CT/MRT: Zur OP-Planung bzw. zur Beurteilung des Bandapparates und der Menisken.

→ 3) Doppler-Sono: Bei Verdacht auf Gefäßverletzungen.

 

→ Therapie:

→ I: Konservativ: Hierfür kommen nur alle nicht-dislozierten und stabilen Fakturen mit einer Gelenkstufenbildung von < 3mm in Frage.

→ Verfahren: Punktion des Hämarthros, Ruhigstellung im Tutor bis sich die akuten Schmerzen zurückbilden sowie Thromboembolieprophylaxe, nachfolgend frühfunktionelle Therapie unter Entlastung des betroffenen Beins und anschließender Teilbelastung mit 15kg für 8 Wochen.

→ II: Operative Therapie:

1) Exakte Wiederherstellung der anatomischen Gelenkfläche,

→ 2) Bei imprimierten Gelenkflächen erfolgt eine Unterfütterung mittels autologer Spongiosa.

→ 3) Stabilisierung der Fraktur mit Schrauben und speziellen, winkelstabilen Platten.

→ 4) Eine intraoperative Kontrolle der Bänder ist obligat.

→ III: Postoperativ: Es wird eine frühfunktionelle Therapie mit Hilfe einer Bewegungsschiene eingeleitet. Die Vollbelastung ist je nach Frakturtyp nach 12-16 Wochen möglich. 

 

Klinisch-relevant: Bei schweren Weichteilverletzungen, offenen Frakturen und polytaumatisierten Patienten ist nach dem Debridement eine primäre Versorgung mit einem Fixateur externe indiziert. Erst sekundär nach Stabilisierung erfolgt die definitive Versorgung.

 

Postoperative Komplikationen: Sind insbesondere:

→ I: Infektionsgefahr,

→ II: Posttraumatische Arthrose infolge einer Gelenkinkongruenz oder Achsenfehlstellung,

III: Kompartmentsyndrom,

→ IV: Erhöhtes Risiko für Thrombosen und Embolien (insbesondere Lungenembolie).