Definition: Beim Kompartmentsyndrom handelt es sich um eine Druckerhöhung in einer von Faszien geschlossenen Muskelloge mit konsekutiver Störung der Mikrozirkulation aufgrund einer Flüssigkeitsansammlung und/oder externen Kompression. Folge ist eine Beeinträchtigung der neuromuskulären Funktion mit progredienter motorischer Parese.

 

Epidemiologie:

→ I: Die Inzidenz schwankt zwischen 3-17% je nach Loge, wobei Männer deutlich häufiger betroffen sind als Frauen.

→ II: Häufigste Ursachen des Kompartmentsyndroms an der unteren Extremität sind Unterschenkelfrakturen oder Fußverletzungen. An der oberen Extremität tritt es insbesondere nach Reimplantationen und gefäßchirurgischen Eingriffen auf.

 

Pathophysiologie: Durch den Druckanstieg in der betroffenen Muskelloge manifestiert sich eine ausgeprägte Behinderung des venösen Abstroms und die kapilläre Permeabilität nimmt zu. Folge ist eine weitere Zunahme des Druckanstiegs (= Circulus vitiosus). Konsekutiv entwickelt sich eine verminderte Versorgung der Muskulatur mit anschließender ischämischer Muskelnekrose und möglicher narbiger Kontraktur z.B. im Unterarmbereich als sogenannte Volkmann-Kontraktur.

542 Pathogenese des Kompartmentsyndroms

 

Ätiologie: Bei der Pathogenese des Kompartmentsyndrom spielen insbesondere nachfolgende Faktoren eine bedeutende Rolle: 

→ I: Frakturhämatomen,

II: Muskelödemen z.B. infolge simultaner Weichteil- und Knochenverletzung,

→ III: Kompression durch einen Gips

IV: Inadäquaten Verschlüssen von Fasziendefekten,

→ V: Blutung bei Hämophilie A/B oder Antikoagulation (z.B. Marcumar).

VI: Muskelhypertrophie,

→ VII: Aber auch als funktionelles Kompartmentsyndrom durch intensiven Gebrauch eines untrainierten Muskels.

 

Lokalisation: Häufig sind die Logen des Unterarms und die Tibialis-anterior-Loge betroffen. Wichtige weitere Muskel-Logen sind:

→ I: Loge des Schultergürtels: Hierzu gehören der M. supraspinatus, M. infraspinatus, M. teres minor und M. subscapularis.

II: Loge vorderen Oberarms: M. biceps brachii, M. coracobrachialis und M. brachialis.

III: Loge hinterer Oberarm: M. triceps brachii

IV: Oberflächliche Beugeloge: M. flexor carpi radialis, M. flexor carpi ulnaris, M. flexor digitorum superficialis, M. palmaris und M. brachioradialis.

V: Tiefe Beugeloge: M. flexor digitorum profundus und M. flexor pollicis longus.

VI: Extensorenloge: M. extensor carpi radialis longus et brevis, M. extensor carpi ulnaris, M. extensor digitorum, M. extensor digiti minimi, M. abductor pollicis longus.

VII: Kompartment der Hand: Palmar, Thenar und Hypothenar.

VIII: Oberschenkel:

→ 1) Ventrales Kompartment: M. quartriceps femoris, Adduktorenmuskulatur (= M. pectineus, adduktor longus, brevis, magnus, M. gracilis) und der M. fasciae latae.

2) Dorsales Kompartment: M. biceps femoris, M. semitendinosus und semimembranosus.

IX: Unterschenkel: Häufigste Lokalisation mit Zeichen einer Fußheberschwäche:

→ 1) Anteriore Kompartment: M. tibialis anterior, M. extensor digitorum, M. extensor hallucis longus.

2) Laterales Kompartment: M. peroneus longus, brevis und tertius.

3) Tiefes dorsales Kompartment: M. tibialis posterior, M. flexor digitorum longus und M. flexor hallucis longus.

 

→ Klassifikation: Das Kompartmentsyndrom wird nach dem Schweregrad der klinischen Symptomatik in verschiedene Stadien unterteilt: 

541 Klassifikation des Kompartmentsyndroms

 

Klinik:

→ I: Die klinische Symptomatik manifestiert sich meist nach Stunden (2-4 Stunden) bis Tagen nach dem Ereignis mit Weichteilschwellung, primär dumpfen Schmerz, der im weiteren Verlauf deutlich zunimmt, druckdolenter Muskulatur, später Sensibilitätsstörungen, z.B. beginnend zwischen 1. und 2. Zehe sowie motorischen Ausfällen (insbesondere Zehen- und Fußheberschwäche durch Ausfall des N. peronaeus profundus).

→ II: Der Puls ist häufig auch bei langandauerndem Kompartmentsyndrom intakt. Es kommt zu einem Pulsverlust, wenn der Kompartmentdruck den diastolischen Blutdruck übersteigt.

 

Klinisch-relevant:

→ A) Während der Entwicklung des Kompartmensyndroms bleibt die arterielle Perfusion und konsekutiv der Nachweis des peripheren Pulses häufig erhalten. 

B) 6Ps: Pressure, Paraesthesia, Paresis, Pain, Pallor und puls intact.

 

Komplikationen:

→ I: Bei zu spät erkanntem Komparmentsyndrom besteht die Gefahr der Ausbildung einer Muskelnekrose mit nachfolgender Kontraktur.

II: Crush-Niere: Akutes Nierenversagen aufgrund der Zerstörung von großen Muskelmassen im Sinne einer Rhabdomyolyse mit evtl. nachfolgendem Multiorganversagen.

 

Diagnose:

→ I: Anamnese und klinische Symptomatik.

→ II: Sonographie: Charakteristische sonographische Befunde beim akuten Kompartmentsyndrom sind u.a.:

→ 1) Nachweisliche Vergrößerung des Muskeldurchmessers.

→ 2) Diffus erhöhte Echogenität,

→ 3) Insbesondere bei einem Trauma ist die Entwicklung eines Hämatoms möglich

III: Kontinuierliche Druckmessung durch eine subfaszial applizierte Drucksonde. 

 

Klinisch-relevant: Es muss die Druckdifferenz zwischen diastolischem RR und intrakompartimentellem Druck > 30mm Hgsein. Physiologisch sind Werte < 10mmHg; Werte zwischen 20-30 mmHg weisen auf eine Mikrozirkulationsstörung hin. Von einem manifesten Kompartmentsyndrom spricht man bei einer Druckerhöhung > 30mmHg.

 

  Differenzialdiagnose: Vom Kompartmentsyndrom müssen insbesondere nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden.

→ I: Thrombophlebitis und Phlebothrombose (mit Schwellung, Wadendruckschmerz, Überwärmung und evtl. Fieber)

→ II: Wund-, Knochen- und Weichteilinfektionen,

→ III: Nervus-peroneus-Läsion: Hierbei bestehen keine Schmerzen und keine Schwellung, sondern vielmehr zeigt sich eine Parese der lateralen Fußheber und Großzehenheber.

→ IV: pAVK.

 

  Therapie:

→ I: Erstmaßnahmen:

→ 1) Abschnürende Verbände lösen bzw. Gips entfernen.

2) Bei drohendem Kompartmentsyndrom stehen Hochlagerung der betroffenen Extremtiät, Kühlung und die Gabe von Antiphlogistika im Vordergrund.

II: Operative Therapie: Ein bewiesenes Kompartmentsyndrom stellt immer eine Notfallsituation dar.

→ 1) Mittel der Wahl ist eine großzügige Fasziotomie (= Faszienspaltung) und Spaltung der darüberliegenden Haut zur Druckentlastung.

2) Temporäre Weichteildeckung mittels Vakuum-Verband oder alloplastischem (körperfremden) Hautersatz.

3) Second-look-OP nach 24-48 Stunden.

→ III: Nachbehandlung: Nach 1-2 Wochen kann schließlich die Hautinzision durch eine Sekundärnaht geschlossen oder der verbleibende Hautdefekt mittels Mesh-Graft gedeckt werden.

 

→ Prognose: Eine schwerwiegende Folge des übersehenen Kompartmentsyndroms ist die ischämische Muskelkontraktur im Bereich der oberen Extremität als Volkmann-Kontraktur. Bei frühzeitiger operativer Behandlung ist eine Restitutio ad integrum möglich.