Definition: Bei der distalen Femurfraktur handelt es sich um eine knöcherne Verletzung im Bereich des distalen Femurschaftes bzw. der Femurkondylen mit möglicher Gelenkbeteiligung. Sie manifestiert sich durch direkte Gewalteinwirkung auf das gebeugte Knie.

Ätiologie: Die distalen Femurfrakturen machen etwa 6% der Femurfrakturen aus und sind somit relativ häufig.

→ I: Junge Patienten: Meist hochenergetische Gewalteinwirkung (Polytrauma) infolge eines Verkehrsunfalls oder eines Sturzes aus hoher Höhe; meist kombiniert mit ausgeprägten Weichteilverletzungen.

→ II: Alte Patienten: Oftmals als Bagatelltrauma (banaler Sturz) bei bestehender Osteoporose oder als periprothetische Frakturen bei Knie-TEP.

 

Klassifikation: AO-Klassifikation der distalen Femurfraktur:

→ I: A-Fraktur: Extraartikuläre, suprakondyläre Fraktur (A1: Einfach, A2: Keil-; A3: Trümmerfraktur).

637 Distale Femurfraktur Gruppe A

→ II: B-Fraktur: Partiell intraartikuläre, unikondylär, sodass der Frakturverlauf die Gelenkebene erreicht.

→ 1) B-1-Fraktur: Partiell intraartikulär, Condylus lateralis,

→ 2) B-2-Fraktur: Partiell intraartikulär, Condylus medialis

→ 3) B-3-Frakur: Frontaler Frakturverlauf.

638 AO Klassifikation der distalen Femurfraktur Gruppe B

III: C-Fraktur: Es handelt sich um komplexe intraartikuläre (bikondyläre) Frakturen.

→ 1) C-1-Fraktur: Artikulär einfach, metaphysär einfach

→ 2) C-2-Fraktur: Artikulär einfach, metaphysär multifragmentär.

3) C-3-Fraktur: Artikulär multifragmentär.

639 AO Klassifikation der distalen Femurfraktur Gruppe C

 

Klinik: Charakteristische Frakturzeichen mit:

I: Starken Schmerzen und Schwellung mit verstrichener Kniekontur, 

→ II: Functio laesa in Form einer Gehunfähigkeit,

→ III: Achsenabweichung; evtl. besteht auch eine Rekurvationsfehlstellung des distalen Segments durch Zug des M. gastrocnemicus.

 

Begleitverletzungen: Sind:

→ I: Patella- und Tibiakopffraktur (in 2-3% der Fälle),

→ II: AzetabulumfrakturSchenkelhals- und Femurschaftfrakturen

III: Kniegelenksverletzungen: Wie Band-, Meniskus- und Knorpelverletzungen,

→ VI: Nervenverletzungen und Gefäßverletzungen (insbesondere die A. poplitea),

→ V: Kettenverletzungen.

 

→ Klinisch-relevant: Besonders gefährdet ist die im Adduktorenkanal verlaufende A. femoralis, da sie in unmittelbarer Nähe zur medialen Kortikalis des distalen Femurs verläuft.

 

  Diagnose:

→ I: Klinische Untersuchung:

→ 1) Bei der klinischen Untersuchung zeigt sich eine ausgeprägte Weichteilschwellung und Deformität im Knie- und suprakondylären Bereich.

→ 2) Die Durchblutung der betroffenen Extremität muss mittels Kontrolle der Fusspulse überprüft werden; ggf. ist eine Doppleruntersuchung bzw. eine Arteriographie indiziert. 

→ II: Röntgen: Distaler Femur und Kniegelenk in 2 Ebenen. Bei Verdacht auf Kettenverletzungen zusätzlich noch proximale Femur- und Beckenübsichtsaufnahme.

→ III: CT: Bei komplexen Frakturen mit Gelenkbeteiligung zu OP-Planung.

 

Therapie: Mittel der Wahl ist die operative Therapie:

→ I: Konservativ Therapie: Diese ist nur in Ausnahmefällen bei nicht-dislozierten Frakturen indiziert.

→ 1) Zunächst wird die Fraktur mit einer Gipsschiene bis zur Rückbildung der Frakturschwellung (6.-8. Tag) behandelt.

→ 2) Bei ausgeprägtem Kniegelenkerguss kann eine Kniegelenkpunktion indiziert sein.  

→ 3) Die Weiterbehandlung erfolgt mittels zirkulärem Oberschenkelliegegips bzw. -tutorverband über einen Zeitraum von  6 (8-10) Wochen unter regelmäßiger Röntgenkontrolle.

→ II: Operative Therapie: Ziel der operativen Therapie ist die Wiederherstellung der Achse, Gelenkflächen und der Beinlänge.

→ 1) Suprakondyläre Fraktur:

→ A) A1: Kondylenplatten-Osteosynthese mit Zugschauben.

B) A2/A3: Kondylenplatten-Osteosynthese, evtl. perkuntan eingeschobene LISS-Platten, evtl. retrograde vom Knie ausgehende Marknagelung.

2) Intraartikuläre unikondyläre Frakturen:

→ A) Hier ist der bedeutendste Schritt die anatomische Rekonstruktion der Gelenkfläche, wobei die Frakturfragmente mittels Spongiosazugschrauben untereinander verbunden werden.

→ B) Begleitende Knorpel- und Bänderschädigungen sollten mitbehandelt werden.

3) Intraartikuläre bikondyläre Frakturen: Auch hier erfolgt die exakte Wiederherstellung der Gelenkfläche mit konsekutiver Frakturstabilisierung durch interfragmentäre Zugschrauben und winkelstabile Platten (LISS-Platte).

4) Bei polytraumatisierten Patienten erfolgt eine temporäre Stabilisierung der Fraktur mit einem kniegelenksübergreifenen Fixateur externe.

5) Im Kindesalter werden die Frakturen mit Kirschner-Draht oder Schrauben stabilisiert. Es besteht bei dieser gelenksnahen Verletzung auch immer die Gefahr der Epiphysenfugenverletzung.

→ III: Postoperative Maßnahmen: Ab dem 3.-4. postoperativen Tag ist eine passive Mobilisation indiziert. Anschließend erfolgt eine Teilbelastung (15-20kg) über 4-6 Wochen, eine Vollbelastung ist nach 10-12 Wochen wieder möglich. Die Metallentfernung wird nach 1-1,5 Jahren anvesiert.

640 Operative Versorgungsinterventionen distaler Femurfrakturen

 

Komplikationen:

→ I: Infolge einer Gelenkinkongruenz, können sich Achsenfehlstellungen, eine posttraumatische Arthrose bzw. Retropatellararthrose oder eine Gelenkinstabilität entwickeln.

→ II: Bleibende Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk entstehen durch Verklebung und Schrumpfung des Recessus suprapatellaris und/oder des Tractus iliotibialis bzw. durch Schrumpfung der dorsalen Gelenkkapsel.

→ III: Weitere Komplikationen sind Infektionen und die Pseudarthrose.

 

Prognose:

→ I: In der Regel verläuft die Abheilung problemlos, insbesondere bei den A-Frakturen.

→ II: Nur bei den komplexen C-Frakturen besteht eine hohes Risiko für die Entwicklung einer posttraumatischen Arthrose.