Definition: Beim Rett-Syndrom handelt es sich (neben dem frühkindlichen Autismus und Asperger-Syndrom) um eine weitere tiefgreifende Entwicklungsstörung, die aufgrund einer progressiven Enzephalopathie zur Neurodegeneration mit konsekutiver neuropsychiatrischer Symptomatik führt. Charakteristikum ist der Verlust bereits erworbener Fähigkeiten.

 

Epidemiologie:

→ I: Die Prävalenz für das Rett-Syndrom liegt in Deutschland bei 1/10000-1/15000, wobei fast ausschließlich das weibliche Geschlecht betroffen ist. Weltweit sind bisher 2000 gesicherte Krankheitsfälle bekannt; in Deutschland sind es etwa 300 Fälle.

→ II: Die Erkrankung manifestiert sich zumeist in der 2. Hälfte des ersten Lebensjahrs.

 

Ätiologie: Ursache ist eine Mutation des auf dem langen Arm des X-Chromosoms gelegenen MECP-2-Gens (= Methyl-CpG-bindenden Protein-2-Gens und unterliegt der X-Inaktivierung) mit konsekutiver Fehlregulation der Gene und negativer Auswirkung auf die Entwicklung des ZNS während der Embryogenese. MECP-2 bindet an methylierte CpG-Dinucleotide in der DNA und beeinflusst so die Transkription.

→ I: Bei 80% der Betroffenen handelt es sich um Missens-, Nonsens- oder kleinere Deletionen.

→ II: Bei 10-15% der Patientinnen sind große Deletionen als Ursache eruierbar.

→ III: Die Mutationen entstehen fast ausschließlich in der Spermatogenese und treten in > 99% der Fälle sporadisch auf (es handelt sich fast ausschließlich um Neumutationen, in 95% der Fälle auf dem X-Chromosom väterlicher Herkunft).

→ IV: Phänotyp/Genotyp:

→ 1) Nonsens-Mutationen führen zu einem schwereren Phänotyp als Missens-.

→ 2) Zum anderen bestimmt die X-Inaktivierung über die Ausprägung der klinischen Symptomatik.

 

Pathologie:

→ I: Makroskopisch zeigen sich beim Rett-Syndrom keine strukturellen Veränderungen, vielmehr eine Reduktion des Hirngewebes, die jedoch nicht fortschreitet.

→ II: Histologie:

→ 1) Regelrechte Anzahl an sehr kleinen dicht gepackten Neuronen mit deutlich reduzierter Anzahl an Dendriten.

→ 2) Typischerweise sind die Neuronen nur wenig verzweigt.

 

Klinik: Der Krankheitsbeginn des Rett-Syndroms manifestiert sich fast ausschließlich zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat. Charakteristische Symptome sind u.a.:

→ I: Verlust erworbener motorischer und sprachlicher Fertigkeiten wie z.B. der zielgerichteten Handbewegungen, feinmotorischer Fähigkeiten sowie der expressiven und rezeptiven Sprache.

II: Stereotype wringende oder händewaschende Handbewegungen vor der Brust bzw. Kinn mit Reiben.

→ III: Fast immer Ausbleiben des Erlernens der Blasen- und Darmkontrolle.

→ IV: Verlust des sozialen Interesses, jedoch beibehalten einer Art sozialen Lächelns mit Blickkontakt, im Sinne eines „Durch-andere-Hindurchsehens“.

→ V: Weitere Symptome: Sind insbesondere:

→ 1) Unzureichendes Kauen der Nahrung,

→ 2) Exzessive Speicheln sowie Herausstrecken der Zunge.

→ 3) Häufig Episoden der Hyperventilation.

→ VI: Neurologische Symptome: Mit

→ 1) Hypotoner Muskulatur,

2) Unkoordinierten Rumpfbewegungen,

→ 3) Entwicklung einer Skoliose oder Kyphoskoliose,

4) Spinale Atrophie mit z.T. schweren starren Spastiken insbesondere der unteren Extremitäten.

→ 5) Entwicklung von epileptischen Anfällen zumeist vor dem 18. Lebensjahr.

522 Klinische Phasen des klassischen Rett Syndroms

 

Klassifikation: Beim Rett-Syndrom werden nach dem Schweregrad, der Symptomatik und dem Krankheitsbeginn verschiedene Formen unterschieden:

→ I: Kongenitales Rett-Syndrom: Keine Phase mit normaler Entwicklung.

→ II: Rett-Syndrom mit Anfällen in den ersten 6 Lebensmonaten.

III: Klassisches Rett-Syndrom mit der typischen Symptomatik.

→ IV: Rett-Syndrom mit unvollständiger Symptomatik (= milde Verlaufsform) und

V: Rett-Syndrom mit erhaltener Sprache.

 

Komorbiditäten: Häufig ist das Rett-Syndrom mit einer schwere geistigen Behinderung und intellektuellen Beeinträchtigung vergesellschaftet. Zudem entwickeln sich oftmals zerebrale Anfälle in der frühen bis mittleren Kindheit.

 

Diagnose:

→ I: Die Diagnose wird mit Hilfe der Anamnese, der charakteristischen klinischen Symptomatik und des Krankheitsverlaufes gestellt.

→ II: Eine Diagnosesicherung erfolgt molekulargenetisch (Genlokus Xq28).

523 Diagnosekriterien des Rett Syndroms nach ICD 10

 

Differenzialdiagnose: Vom Rett-Syndrom müssen insbesondere nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden:

→ I: Weitere tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie der frühkindliche Autismus oder das Asperger-Syndrom, etc.

→ II: Weitere (genetisch bedingte) Syndrome wie z.B. das:

→ 1) Angelman-Syndrom oder

→ 2) Fragile-X-Syndrom, etc.

 

Therapie:

→ I: Eine kausale Behandlung existiert bis heute nicht. Die Einleitung von Frühförderungsmaßnahmen, wie heilpädagogische Interventionen, Musik-, Ergotherapie und nicht zuletzt Krankengymnastik können den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen und die Lebensqualität deutlich verbessern.

II: Auch die Beratung und Begleitung der betroffenen Familien (im Sinne der Psychoedukation) stellt einen weiteren Schwerpunkt der Therapie dar.

 

Prognose:

→ I: Das Rett-Syndrom weist einen charakteristischen Krankheitsverlauf auf; nach einer eindeutig normalen Entwicklung kommt es zur Verlangsamung des Kopfwachstums zwischen den 5. Lebensmonat und 4. Lebensjahr.

→ II: Der Verlust der erworbenen Fertigkeiten ist progredient und Remissionen sind nur begrenzt.