→ Definition: Beim Asperger-Syndrom handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die durch eine Beeinträchtigung der Kommunikations- und sozialen Interaktionsvermögens charakterisiert ist. Zumeist besteht eine fixierte Einhaltung rigider Rituale sowie gelegentlich eine Hochbegabung.
→ Epidemiologie:
→ I: Das Asperger-Syndrom stellt mit einer geschätzten Prävalenz von 0,5-1,1% eine sehr selten Erkrankung dar (es existieren nur wenige epidemiologische Studien).
→ II: Das männliche Geschlecht ist deutlich häufiger betroffen als das weibliche (Jungen/Mädchen 8 : 1).
→ Ätiopathogenese:
→ I: Die genaue Genese des Asperger-Syndroms ist bis heute noch nicht genau geklärt, jedoch wird den genetischen Faktoren eine große Bedeutung zugewiesen.
→ II: Zudem existieren Hinweise auf Funktionsstörungen im Bereich des Frontal- und Temporallappens (im Vergleich zum Gesunden; sie auch tiefgreifende Entwicklungsstörungen allgemein).
→ Klinik:
→ I: Beim Asperger besteht ähnlich wie beim frühkindlichen Autismus eine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktionen (einschließlich der nonverbalen Kommunikation, Vermdeidung von Blickkontakt und Berührungen, etc.), ein stereotypes Verhaltensrepertoire sowie eine eingeschränkte Interessenbildung.
→ II: Jedoch ist die intellektuelle Leistungsfähigkeit unauffällig und es besteht keine Entwicklungsverzögerung der Sprache (z.T. früher Spracherwerb). Zudem klingt die Sprache häufig elaboriert, gestelzt, ist zumeist situationsinadäquat und weist eine auffallend monotone Sprachmelodie auf.
→ III: Eine weiteres Charakteristikum ist die motorische Ungeschicklichkeit mit motorischen Stereotypien und situationsunangemessenen Bewegungsmustern, die die Betroffenen als unbeholfen und ungeschickt erscheinen lassen.
→ IV: Es existieren eine Reihe von ritualisierten Phänomenen sowie entsprechende Veränderungsängste.
→ IV: Weitere Symptome: Sind u.a.:
→ 1) Spezial- und Sonderinteressen, die einseitig insbesondere auf technisches und lexikales Wissen ausgerichtet sind.
→ 2) In 15% der Fälle entwickelt sich sogar eine außergewöhnliche Begabung insbesondere in den Bereichen des Gedächtnisses, der Wahrnehmung oder der Mathematik.
→ 3) Des Weiteren besteht ein Mangel an Einfühlungsvermögen, Schwierigkeiten in der Perspektivübernahme sowie Empathiedefizite.
→ 4) Auch das Spielverhalten der betroffenen Kinder ist wenig kreativ und zeigt nur ein geringes (bis fehlendes) differenziertes Spielmuster.
→ 5) Einschränkungen und Kritik können zu massivem aggressivem Verhalten bis hin zur Deliquenz führen.
→ Klinisch-relevant: Beim Asperger-Syndrom besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen umfangreicher intellektueller Leistungsfähigkeit und erheblichen Defiziten in den sozialen Bereichen.
→ Komorbiditäten:
→ I: Patienten mit Asperger-Syndrom weisen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Schizophrenie sowie weiterer psychotischer Störungen auf.
→ II: Auch zeigt sich eine vermehrte Assoziation mit Tic-Störungen und dem Tourette-Syndrom.
→ III: Weitere Komorbiditäten: Sind insbesondere:
→ 1) Depressive Störungen,
→ 2) Hyperaktivität,
→ 3) Angst- und Zwangsstörungen.
→ Diagnose:
→ I: Anamnese/Klinische Untersuchung:
→ 1) Umfangreiche Eigen- und vor allem auch Fremdanamnese unter besonderer Berücksichtigung der frühkindlichen Entwicklung sowie Verhaltensbeobachtung.
→ 2) Körperlich neurologische Untersuchung u.a. zum Ausschluss assoziierter somantischer Syndrome und möglicher Beeinträchtigungen von Sinnesorganen (einschließlich augenärztlicher und ohrenärztlicher Untersuchung).
→ II: Weitere Diagnostik wie Bildgebung und EEG.
→ III: Zusätzliche spezifische testpsychologische Screeningverfahren wie z.B.:
→ 1) Marburger-Beurteilungs-Skala zum Asperger-Syndrom oder
→ 2) Diagnostische Beurteilungsskala für autistische Störungen, etc.
→ Differenzialdiagnose: Von dem Asperger-Syndrom müssen insbesondere nachfolgende psychische Erkrankungen abgegrenzt werden; hierzu zählen u.a.:
→ I: Weitere tiefgreifende Entwicklungsstörungen, vor allem der frühkindliche Autismus, aber auch das Rett-Syndrom.
→ II: Die Persönlichkeitsstörungen, vornehmlich die schizoide – und zwanghafte PS.
→ III: Weitere Differenzialdiagnosen: sind u.a. die:
→ 1) Zwangsstörung,
→ 2) Selektiver Mutismus und nicht zuletzt
→ 3) Schizophrenia simplex, etc.
→ Therapie: Eine kausale Behandlung der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen existiert nicht, vielmehr handelt es sich um eine multimodale Therapie, die die Selbstständigkeitsentfaltung, soziale Integration sowie die schulische und berufliche Entwicklung verbessern. Zu den Interventionen zählen insbesondere:
→ I: Frühförderung: Sie zielt zum einen darauf ab, die normale Kindesentwicklung zu fördern sowie gestörte Verläufe zu korrigieren, zum anderen versucht sie, exzessive Erlebensweisen und Verhaltensmuster wie z.B. pathologische Ängste und selbstverletzendes Verhalten abzubauen. Zudem sollen defizitäre Eigenschaften, vor allem die Bereiche Sprache und Motorik betreffend, verbessert werden. Weitere Ziele sind:
→ 1) Abbau von Stereotypien,
→ 2) Ausbildung der allgemeinen (verbal/nonverbalen) Kommunikation und Sprache sowie Förderung der Beziehungsfähigkeit.
→ 3) Therapie von Begleitsymptomen wie motorische Unruhe, auto- und fremdaggressives Verhalten, Enkopresis (= rezidivierendes, (un-)-freiwilliges Einkoten nach dem 4. Lebensjahr), Kotessen, Schlafstörungen etc.
→ 4) Therapie von Komorbiditäten wie die Epilepsie.
→ Klinisch-relevant: Wichtig hierbei ist die frühzeitige Unterstützung der Familie, die vor allem auch durch Psychoedukation wie umfangreiche Informationen über die Erkrankung, Selbsthilfegruppen, sozialrechtliche Hilfsangebote etc. erreicht wird.
→ II: Verhaltenstherapie: Hierbei haben sich in der Behandlung von autistischen Kindern zwei Methoden etabliert. Zum einen die frühe intensive globale Verhaltenstherapie (= Applied-Behavior-Analysis = ABA) und zum anderen das sogenannte TEACCH-Programm (= Treatment and education of autistic and related communication handicapped children). Beide Therapieansätze haben das Ziel, die soziale Interaktion, Kommunikationsfähigkeit und die Selbstständigkeit zu fördern und Zwänge, Rituale, Auto- sowie Fremdaggression, aber auch Isolation zu reduzieren, um eine lebenspraktische Fertigkeit im Zusammenleben mit Gleichaltrigen zu erreichen. Im Erwachsenenalter konzentriert sich die Behandlung vor allem auf das Training sozialer Kompetenz.
→ 1) ABA: Ist eine besonders intensive Verhaltenstherapie mit hochfrequenten Therapieeinheiten (40h/Woche). Wichtig ist hierbei die enge Einbeziehung der Familienangehörigen.
→ 2) TEACCH: Es wird davon ausgegangen, dass die Umwelt an das autistische Kind angepasst werden sollte, damit sich der Betroffene besser orientieren kann und neue Verhaltensweisen besser erlernt und eingeübt werden können.
→ III: Pharmakotherapie: Die Pharmakotherapie dient vor allem der Reduktion komorbider Störungen wie z.B. begleitende Depression oder Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis, um die verhaltenstherapeutischen Interventionen in den Bereichen soziale Integration, kommunikative Interaktionen und Stereotypien positiv zu beeinflussen bzw. negative Störfaktoren wir massive Erregungszustände bei sich verändernden Lebensumstände zu reduzieren.
→ 1) SSRI: (= Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer) Sie reduzieren erfolgreich repetitives und aggressives Verhalten. Unter Fluvoxamin zeigt sich eine deutliche Verbesserung der Sprache und sozialen Interaktionsfähigkeit.
→ 2) Atypische Neuroleptika: (= Antipsychotika der 2. Generation) Können zur Behandlung von hyperkinetischem oder aggressivem Verhalten und bei Stereotypien eingesetzt werden. In verschiedenen Studien zeigte Risperidon eine positive Wirkung auf verschiedene Symptome wie Stereotypien, aggressives Verhalten und Minderung der Hyperaktivität.
→ 3) Zur Steigerung der Aufmerksamkeit und Reduktion der Impulsivität können Stimulanzien versucht werden.
→ 4) Antikonvulsiva: Antikonvulsiva wie Carbamazepin, Valproat etc. sind insbesondere in der Behandlung einer komorbiden Epilepsie indiziert. Diese Pharmaka weisen häufig zusätzlich eine Verbesserung der Aggressivität und zugleich der Kommunikationsfähigkeit auf. Zudem zeigt sich eine Reduktion affektiver Symptome und bewirkt somit eine Stimmungsstabilisierung.
→ Klinisch-relevant:
→ A) Bei jeglicher medikamentösen Behandlung der autistischen Symptomatik handelt es sich letztlich um eine Off-Lable-Anwendung.
→ B) Es zeigt sich, dass Patienten mit Autismus besonders empfindlich auf die pharmakologische Behandlung reagieren und hierdurch die Nebenwirkungsrate sehr hoch ist.
→ Prognose:
→ I: Im Vorschulalter fallen die Betroffenen schon durch ihre sozialen Besonderheiten und motorischen Ungeschicklichkeiten auf; im Schulalter werden jene sehr spezifischen Sonderinteressen noch deutlicher sichtbar.
→ II: Die Prognose hängt insbesondere von der Schwere der Symptomatik ab und kann in Einzelfällen mit dem Älterwerden abnehmen.