→ Definition: Bei der Tic-Störung handelt es sich um eine Gruppe von Erkrankungen, bei denen sich plötzlich einschießende, repetitive, stereotype und unwillkürliche, nicht-rhythmische und nicht-zielgerichtete, muskuläre Aktionen bzw. Lautäußerungen manifestieren.
→ Epidemiologie:
→ I: Die Prävalenz der Tic-Störung liegt in der Allgemeinbevölkerung bei 4-12%, wobei Jungen deutlich häufiger betroffen sind (Jungen : Mädchen = 3-5 : 1).
→ II: Der Manifestationsgipfel liegt meist um das 7.-14. Lebensjahr.
→ Ätiopathogenese: Die Entstehung der Tic-Störung ist noch nicht genau bekannt, vielmehr geht man von einer heterogenen Pathogenese aus.
→ I: Genetisch: Eine familiäre Häufung besteht. Als mögliche Mutation wird das SLITRK1-Gen auf Chromosom 13 diskutiert, das ein Protein für das Neuritenwachstum kodiert.
→ II: Neurobiologisch: Man findet eine Störung im Bereich des Neurotransmittersystems (Dopamin und Serotonin) der motorischen Kortex sowie des Mittelhirns, im Bereich der Basalganglien und des Thalamus. Zunehmend wird auch eine striatofrontale Dysfunktion diskutiert, was erklären würde, daß Tic-Störungen häufig mit ADHS vergesellschaftet sind.
→ III: Umweltfaktoren: Es besteht eine Zusammenhang zwischen dem mütterlichen Nikotinkonsum und der Intensität/Schweregrad der Tic-Symptomatik.
→ Kassifikation: Die Ticsstörungen werden unterteilt in:
→ I: Motorischen und vokalen Tics:
→ 1) Motorische Tics:
→ A) Einfache Tics: Sie betreffen nur eine oder wenige Muskelgruppen und sind vor allem im Gesichtsbereich lokalisiert mit z.B. perioralen Zuckungen, Augenblinzeln, Stirnrunzeln, Hochziehen der Augenbraun, Mundzuckungen, Grimassieren sowie ruckartige Hals- und Schulterzuckungen, Kopfwerfen etc.
→ B) Komplexe Tics: Sie bstehen aus koordinierteren Bewegungsabläufen, die motorischen Handlungen und Gesten ähnlich sein können. Hierzu zählen u.a. Hüpfen, Springen, Kratzen, Kopfschütteln, Berühren von anderen Leuten und Gegenständen, komplexe Gesten, Kopropraxie (= Ausführen obszöner Gesten).
→ 2) Vokale Tics:
→ A) Einfache Tics: Sie stellen Lautäußerungen dar und umfassen u.a. Räuspern, Grunzen,Schniefen, Pfeifen, mit der Zunge schnalzen, Husten, Schreien, Stöhnen, etc.
→ B) Komplexe Tics: Sie umfassen sprachliche Äußerungen, Vokalisationen, Verbalisationen (mit z.T. explosionsartigem Charakter), sowie das Wiederholen von Wörtern und Sätzen.
→ II: Klassifikation: Der Ticstörung nach ihrer Ätiologie. Hierbei werden insbesondere 2 Subtypen unterschieden:
→ 1) Primäre Ticstörung: Bei dieser Tic-Form ist keinerlei andere Grund-/Vorerkrankung bzw. Komorbidität explorierbar (sie wird auch als idiopathische Tic-Form bezeichnet) und man geht bis heute von einem einheitlichen Pathomechanismus aus.
→ 2) Sekundäre Ticstörungen: Sie stehen der idiopathischen Form gegenüber und entwickeln sich aufgrund verschiedener neurologischer Störungen oder Traumatisierungen, können aber auch Medikamenten-induziert sein. Hierzu zählen u.a. Cocain, Amphetamin, Methylphenidat, etc.
→ III: Einteilung der Ticstörung nach ihrer Verlaufsform:
→ 1) Vorübergehende Tics: Hierbei handelt es sich meist um einfache motorische Tics (bzw. um isolierte motorische oder verbale Tics), die nicht länger als 1 Jahr anhalten.
→ 2) Chronisch motorische oder vokale Tics: Einfache und/oder komplexe motorische Tics oder einfache und/oder komplexe vokale Tics, die länger als 1 Jahr anhalten.
→ 3) Kombinierte vokale und motorische Tics: Hierbei handelt es sich meist um das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom. Charakteristisch ist das Auftreten von multiplen einfachen und/oder kompelxen motorischen Tics und einfachen und/oder komplexen vokalen Tics, die länger als 1 Jahr anhalten.
→ Klinik:
→ I: Gerade bei den chronischen vokalen Ticstörungen findet man:
→ 1) Echolalie: Zwanghaftes Nachsprechen von Gehörtem.
→ 2) Palilalie: Zwanghaftes Wiederholen eigener Worte oder Sätze.
→ 3) Koprolalie: Zwanghaftes Ausstoßen von Fäkalworten.
→ II: Bei den chronischen motorischen Tics zeigt sich nicht selten eine Echopraxie (= Wiederholen von unwillkürlichen Bewegungen) oder eine Kopropraxie (= Wiederholen von obszönen Gesten und Handlungen).
→ III: Die Tics treten gehäuft in Stresssituationen und Anspannung auf und sind unter Entspannung bzw. im Schlaf nur selten (können nicht grundsätzlich verhindert, jedoch zeitweise unterdrückt werden).
→ Komorbiditäten: Gerade bei schweren Tic-Formen findet man gehäuft weitere psychische Störungen wie:
→ I: ADHS in der Vorgeschichte (in 50-75% der Fälle),
→ II: Zwangsstörungen,
→ III: Depressive Störungen und nicht zuletzt
→ IV: Impulsivität.
→ Differenzialdiagnose: Von der Tic-Störung muss insbesondere nachfolgende psychiatrisch-neurologische Störungen abgegrenzt werden:
→ I: Zwangsstörungen,
→ II: Epilepsie,
→ III: Chorea-minor bzw. - major und nicht zuletzt das
→ IV: PANDAS-Syndrom: Beim PANDAS-Syndrom (= Pediatric-autoimmune-neuropsychiatric-disorders associated with streptococcal infektion) manifestieren sich motorische und vokale Tics und Zwangsstörungen in engem zeitlichem Zusammenhang mit einer Streptokokkeninfektion.
→ Therapie:
→ I: Vorübergehende Tics: Werden meist nicht oder nur psychotherapeutisch durch Beratung und Klärung aktueller familiärer Probleme behandelt.
→ II: Chronische Tics:
→ 1) Psychoedukation auch der Familie, Lehrer, da gerade vokale Tics fehlinterpretiert werden.
→ 2) Verhaltenstherapie: Erlernen von Bewältigungsstrategien, gerade in Stresssituationen, Selbstmanagement sowie Entspannungsverfahren wie z.B. autogenes Training und progressive Muskelrelaxation nach Jacobson.
→ 3) Medikamentös: Richtet sich nach dem Schweregrad und der Dauer der Symptomatik (> 12 Monate). Das Mittel der Wahl ist die einschleichende Applikation eines Dopaminrezeptors wie Pimozid, Haloperidol oder Tiaprid 25-50mg/d p.o. (alle 3 Tage um 50mg/d erhöhen) bis zu einer Maximaldosis von 800mg/d (abhängig von der Verträglichkeit und dem Körpergewicht). Alternativ bzw. zur Augmentation kann ein atypisches Neuroleptikum wie Risperidon oder Aripiprazol gegeben werden.
→ 4) Bei gleichzeitig bestehender Zwangsstörung kann zusätzlich ein Antidepressivum verabreicht werden.
→ Verlauf/Prognose:
→ I: Vorübergehende Tics: Sie haben meist eine günstige Prognose und remittieren zu Beginn der Adoleszenz.
→ II: Chronische Tics: Bei schweren Verlaufsformen bleibt die Symptomatik bis ins Erwachsenenalter bestehen, oft jedoch nehmen die Tics mit zunehmendem Alter an Intensität ab (1/3 der Fälle) und können in 1/3 der Fälle schließlich gänzlich verschwinden.