→ Definition:
→ I: Bei der Zwangsstörung handelt es sich um ein Krankheitsbild, bei der die Symptome Zwangsgedanken, Zwangsimpulse und Zwangshandlungen (= sich wiederholende Stereotypien) im Vordergrund stehen.
→ II: Die Gedanken bzw. Handlungen stellen sich repetitiv, sich aufdrängend, nicht-kontrollierbar und sinnlos dar; der Patient versucht zumeist erfolglos Widerstand zu leisten.
→ Epidemiologie:
→ I: Die Lebensprävalenz liegt bei der Zwangsstörung in der Allgemeinbevölkerung bei ca. 2%, wobei der Erkrankungsbeginn typischerweise zwischen der Adoleszenz und dem frühen Erwachsenenalter liegt (1/3 erkrankt bereits vor dem 15. Lebensjahr; ein weiterer Manifestationsgipfel liegt zwischen dem 30.-40. Lebensjahr).
→ II: Männer sind nahezu genau so häufig wie Frauen betroffen, wobei Buben und Männer früher erkranken als Mädchen bzw. Frauen.
→ Ätiopathogenese: Bei der Zwangsstörung steht eine multifaktorielle Genese im Vordergrund. Hierzu zählen:
→ I: Genetische Faktoren: Bis heute existieren keine aussagekräftige Studien für die Rolle der Genetik bei Zwangsstörungen. Es zeigt sich jedoch eine erhöhte Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen gegenüber zweieiigen (33% : 7%). Auch besteht eine familiäre Häufung insbesondere bei Verwandten 1. Grades von Patienten mit Zwangsstörungen (4-6-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko).
→ II: Neurobiologische Faktoren: Hierbei wird von einer Dysbalance (des serotonergen aber auch dopamingergen Transmissions-Systems) in der Aktivität des frontosubkortikalen Systems ausgegangen mit verminderter Filterfunktion der Basalganglien gegenüber der präfrontalen Kortex. Folge ist ein vermehrtes Auftreten bzw. eine verminderte Unterdrückung von stereotypen Verhaltensmustern. Des Weiteren hat sich die Serotonin-Hypothese mit einer Überaktivität des serotonergen Systems im frontostriatalen Regelkreislauf, die durch den therapeutischen Effekt der SSRI gestützt wird, etabliert. Auch das dopaminerge System spielt bei der Pathogenese der Zwangsstörung eine wichtige Rolle.
→ III: Lerntheoretische Faktoren: Es besteht eine direkte Beziehung zwischen Zwangssymptomen und der Angst. Im Sinne der klassischen Konditionierung wird eine ursprünglich neutrale Handlung an einen angstbesetzten Stimulus gebunden, mit dem Versuch eine angstbesetzte Situation zu bewältigen. Hat diese Handlung (Gedanke) Erfolg und reduziert die Angst, (Zwangshandlungen führen zur Reduktion von Spannungszuständen) tritt sie als positiver Verstärker gehäuft auf und kann sich im weiteren Krankheitsverlauf verselbstständigen (im Sinne des 2-Faktoren-Modells nach Mowrer). Umgekehrt entwickelt sich beim Versuch die Handlung zu unterdrücken eine massive Angst.
→ IV: Psychodynamische Faktoren: Hierbei stehen insbesondere die Fixierung auf die anale Phase sowie die Überprotektion und/oder rigide Erziehungsform (z.B. Autorität und damit verbundene Frustration infantiler Triebbedürfnisse, aber auch übertriebene Reinlichkeitserziehung) im Vordergrund. Die bei der Entstehung der Zwangsstörung bestehenden pathologischen Impulse, die aus der analen Phase der Kindheit entstammen (wie z.B. sich zu beschmutzen, antisoziale und aggressive Wünsche), werden durch den Abwehrmechanismus der inhaltlichen und affektiven Isolierung, aber auch durch die Reaktionsbildung oder Intellektualisierung unterdrückt. Die Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen ist durch ausgeprägte Rigidität, Über-Ich-Strenge und Hypermoralität gekennzeichnet. Die Entwicklung der Zwangsstörung stellt den Versuch dar, gegensätzliche Bestrebungen miteinander zu verbinden (Über-Ich versus Es: Konflikt zwischen aggressiven Triebimpulsen und moralischer Instanz = Zwangssymptome stellen regressive Kompromissbildung dar).
→ V: Prämorbide Persönlichkeitsfaktoren: Patienten mit einer Zwangsstörung weisen sehr häufig eine dependente und ängstliche Persönlichkeitsstrukur auf.
→ VI: Somatische Faktoren: Somatische Erkrankungen, die die Basalganlien mitbetreffen, sind häufig mit Zwangssymptomen vergesellschaftet; hierzu zählen u.a.:
→ Klinik: Der Beginn der Zwangsstörung ist zumeist einschleichend und langsam progredient; es besteht eine hohe Neigung zur Chonifizierung
→ I: Das Krankheitsbild der Zwangsstörung umfasst nachfolgende Phänomene:
→ 1) Zwangsgedanken: (= Obsessionen) Hierbei handelt es sich um repetitiv aufdrängende zwanghafte Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die insbesondere durch aggressive, autoagressive sowie sexuelle Inhalte charakterisiert sind und vom Patienten als Ich-dyston, sinnlos, sogar abstoßend und quälend empfunden werden. Sie gehen häufig mit Spannungsgefühlen und Angstzuständen einher, die zu rituellen Zwangshandlungen führen können, um die Angst zu minimieren. Häufig Inhalte der Zwangsgedanken umfassen folgende Themenbereiche:
→ A) Schmutz/Beschmutzung und Ansteckung,
→ B) Ordnung, Symmetrie und Kontrolle,
→ C) Aggressive Vorstellungen (z.B. Beleidigungen, jemanden zu verletzen etc.),
→ D) Religiöse Gedanken (z.B. Gotteslästerung),
→ E) Sexuelle Fantasien.
In diesem Zusammenhang kann auch die Grübelsucht erwähnt werden, bei der sich ein nicht-endendes, stereotypes Fragen (= Rumination) manifestiert, das zum Teil banal, aber auch philosophisch sein kann.
→ 2) Zwangsimpulse: Sie stellen Handlungsimpulse mit sexuellem oder aggressivem Charakter dar, die sich gegen den Willen des Patienten mit der Angst, die Handlung auszuführen, durchsetzen. Folge ist eine quälende Angst (die zwanghaften Impulse werden zumeist nicht in die Tat umgesetzt).
→ 3) Zwangshandlungen: (= Reaktionen auf die Zwangsgedanken = Komplusionen) Beschreiben gegen den eigenen Willen durchgeführte stereotype Handlungen und Rituale, die zu einer vorübergehenden Reduktion der Angst, Eckel bzw. Anspannung und Unwohlsein führen. Die Handlungen müssen immer in gleicher Weise durchgeführt werden und dürfen nicht verändert werden. Eine Verhinderung der Ausführung von Zwangshandlungen verursacht einen exzessiven Anstieg der Angstzustände. Auch leiden eine Reihe von Patienten unter mehreren Arten von Zwangshandlungen. Häufige Zwangshandlungen sind u.a.:
→ A) Kontrollzwang (mit 63% der Fälle), gefolgt von
→ B) Waschzwang (50%),
→ C) Ordnungs- und Symmetriezwang (28%), seltener entwickeln sich
→ D) Wiederholungs- bzw. Zählzwang (21%) ... sowie
→ E) Hortungszwang (2%).
→ II: Allen Zwangsphänomen gemeinsam ist:
→ Komorbiditäten: Bei der Zwangsstörung manifestiert sich ein vermehrtes Auftreten von:
→ I: Affektiven Störungen vor allem depressive Episoden bzw. rezidivierende depressive Störungen.
→ II: Angststörungen, insbesondere die spezielle - und soziale Phobie, gefolgt von der Panikstörung.
→ III: Persönlichkeitsstörungen wie die ängstlich-vermeidende PS und abhängige PS (Cluster-C-Persönlichkeitsstörungen) gefolgt von der zwanghaften - und histrionischen PS.
→ IV: Essstörungen vor allem die Anorexia nervosa sowie
→ V: Weitere Störungen: Wie
→ 1) Substanzenmissbrauch und Abhängigkeitserkrankungen,
→ 2) Tic-Störungen.
→ Diagnose:
→ I: Anamnese/klinische Untersuchung: Da Patienten mit Zwangsstörungen eine hohe Verheimlichungstendenz aufweisen, hat die Exploration des Patienten eine besondere Bedeutung. Für die klinische Praxis existieren insbesondere 2 gezielte Screeningfragen, die die Diagnose der Zwangsstörung unterstützten:
→ 1) Hierbei müssen die Zwangsgedanken/-handlungen ganz im Vordergrund der Symptomatik stehen und andere psychische Störungen mit z.B. Zwangssymptomen ausgeschlossen werden. Auch spielt der Zeitfaktor von mindestens 2 Wochen, der psychische Leidensdruck, der mögliche Verlust der Arbeit und sozialer Kontakte eine wichtige Rolle.
→ 2) Die Diagnose erfolgt jedoch zumeist klinisch mit Hilfe der Verhaltensbeobachtung und Verhaltensanalyse.
→ II: Testpsychologische Verfahren: Ergänzend können testpsychologische Verfahren zur Diagnosestellung hinzugezogen werden. Hierzu zählen:
→ 1) Yale-Brown-Obsessions-Compulsive-Scale: (= Y-BOCS) Dieses Standardfremdbeurteilungsverfahren dient insbesondere der qualitativen Spezifizierung der Zwangsstörung als auch der Beurteilung des Schweregrades.
→ 2) Hamburger Zwangsinventar: Unterstützendes testpsychologisches Verfahren zur Diagnosestellung der Zwangsstörung. Es handelt sich um ein Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung der Zwangsgedanken/-handlungen und Beurteilung des Schweregrades.
→ III: Internistische/neurologische Diagnose:
→ 1) Blutbild einschließlich der Bestimmung des Anti-Trypsin-Titers.
→ 2) cCT/CMRT mit evtl. Nachweis von Veränderungen im Bereich der Basalganglien.
→ 3) EEG: Häufig ist bei den Zwangsstörungen eine allgemeine Dysrhythmie eruierbar.
→ Differenzialdiagnose: Von den Zwangsstörungen müssen insbesondere nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden:
→ I: Anankastische PS: Der Krankheitsverlauf ist hierbei einförmig, die Symptomatik ist schwächer ausgeprägt und wird charakteristischerweise als Ich-Synton angenommen.
→ II: Anankastische Depression: Hier entwickeln sich Zwangssymptome, insbesondere der Grübelzwang, im Rahmen einer schweren Depression. Der Krankheitsverlauf ist phasisch und die Gedankeninhalte werden aufgrund der depressiven Störung als nicht unsinnig bzw. gerechtfertigt erachtet.
→ III: Hirnorganische Erkrankungen: Die mit Zwangssymptomen einhergehen können sind u.a. die Apoplexie, Demenz, Chorea minor (= im Anschluss an eine Strepokokkeninfektion kann sich eine Basalganglien-Erkrankung mit einem hyperkinetischen-hyptotonen Syndrom der Gesichtsmuskulatur und der distalen Extremitäten entwickeln), bestimmte Formen der Enzephalitis (z.B. Encephalitis lethargica), aber auch das Tourette-Syndrom.
→ IV: Zwangssymptome müssen zudem auch noch von den Wahnphänomenen bei schizophrenen Psychosen abgegrenzt werden. Hierbei werden die Zwangsphänomene als Außen eingegeben und gesteuert empfunden.
→ V: Weitere Erkrankungen: Die von zwanghaften Verhaltenweisen begleitet werden sind u.a.:
→ 1) Ritualisiertes Verhalten bei Essstörungen,
→ 2) Abhängigkeitserkrankungen.
→ 3) Blei-, Mangan- und Quecksilberintoxikation.
→ 4) Normaldruckhydrozephalus, etc.
→ Therapie: Im Vordergrund der Therapie steht die Steigerung der Lebensqualität durch Verbesserung der Zwangskontrolle (d.h. Symptomreduktion), da eine Heilung meist nicht möglich ist. Insbesondere die kognitive Verhaltentherapie hat sich bei der Behandlung der Zwangsstörungen etabliert.
→ I: Kognitive Verhaltentherapie: Wichtig hierbei ist der Aufbau einer stabilen Patienten-Therapeuten-Beziehung. Zu den verhaltenstherapeutischen Strategien gehören insbesondere:
→ 1) Psychoedukation: Mit Vermittlung von Informationen über die Störung und Aufklärung, das insbesondere aggressive Zwangsgedanken zumeist nicht in die Tat umgesetzt werden.
→ 2) Verhaltensanalyse: Hier steht die Analyse/Identifikation der Zwangsgedanken und -handlungen sowie deren Auslösesituationen bzw. -bedinungen im Vordergrund. Hierzu dient z.B. die Anleitung zur Selbstbeobachtung durch Führung eines Tagebuches zwanghafter Gedanken und Verhaltens.
→ 3) Systemische Desensibilisierung: (oder gestufte Exposition) Initial wird eine Hierarchie der angstauslösenden Stimuli/Situationen erarbeitet. Es erfolgt eine Expositionsbehandlung durch gestufte Konfrontation (evtl. primär in Sensu, später in Vivo) mit dem Stimulus (zunächst mit therapeutischer Begleitung) mit konsekutiver Reaktionverhinderung durch Reaktionsmanagement. Lernziel hierbei ist, dass es sich bei der Spannungsreaktion um eine physiologische Reaktion handelt, die nach einem Zeitintervall wieder abklingt. Wichtig ist auch die Einbeziehung der Familie, um eine soziale Isolation des Patienten zu vermeiden.
→ Klinisch-relevant: Eine extreme, nur stationär durchführbare Behandlung ist das Flooding, bei der der Patient mit Waschzwang sich z.B. über einen Zeitraum von mehreren Tagen nicht waschen und umziehen darf (= massierte Form).
→ 4) Gedankenstopp: Ist eine weitere kognitive Behandlungsmethode insbesondere Zwangsgedanken zu unterdrücken. Hierbei wird der Patient aufgefordert bei geschlossenen Augen den angstauslösenden Gedanken ins Bewusstseins zu rufen. Sobald der Therapeut über diesen Schritt durch ein Zeichen unterrichtet wurde, sagt dieser „ Stopp“. Im weiteren Therapieverlauf übernimmt der Patient dies selber.
→ 5) Habituierungstraining: Hierbei wird der Patient angehalten, repetitive gefürchtete Gedanken so lang zu denken bis sich eine Angstreduktion manifestiert. Dabei sind neutralisierende Handlungen untersagt.
→ 6) Eine weitere psychotherapeutische Technik ist die kognitive Umstrukturierung durch z.B. Entkatastrophisierung und Realitätskontrolle.
→ 7) Weitere stützende Verfahren:
→ A) Entspannungstherapien wie die progressive Muskelrelaxation oder autogenes Training.
→ B) Training sozialer Kompetenz.
→ II: Pharmakotherapie:
→ 1) In der medikamentösen Behandlung der Zwangsstörung haben sich insbesondere die serotonerg-wirksamen SSRI wie Citalopram, Paroxetin (20-60mg/d), Fluoxetin (20-60mg/d), Sertalin (50-200mg/d) etc. etabliert, die zu einer 40-50%igen Symptomreduktion führen. Die Wirklatenz ist jedoch mit 12 Wochen sehr lange und es ist eine deutlich höhere Dosierung im Vergleich zur Depression nötig.
→ 2) Bei einer SSRI-resistenten Zwangsstörung sollte evtl. ein serotonerg wirksames trizyklisches AD wie Clomipramin erwogen werden.
→ Klinisch-relevant:
→ A) Fast alle Antidepressiva müssen in der Zwangs-, aber auch in der Angsttherapie höher dosiert werden als in der Behandlung der depressiven Störungen.
→ B) Aufgrund der deutlich längeren Wirklatenz, muss die Substanz über einen Zeitraum von mindestens 10 Wochen appliziert werden, bevor eine Beurteilung des Nichtansprechens erfolgen kann.
→ III: Bei schweren Verlaufsformen mit ausgeprägter Klinik kann eine zusätzliche atypische Neuroleptika-Therapie mit z.B. Risperidon oder Quetiapin (Add-On/Off-label-Indikation) als Augmentation versucht werden.
→ IV: Des Weiteren steht bei der Zwangsstörung noch die repetitive transkranielle Magnetstimulation in klinischer Erprobung.
→ Prognose:
→ I: Die Zwangsstörung weist häufig eine starke Tendenz zur Chronifizierung auf. Im weiteren Krankheitsverlauf neigen insbesondere Zwangsgedanken/-handlungen dazu, sich weiter in die verschiedenen Lebensbereiche auszubreiten und diese einzunehmen. Folgen sind u.a. sozialer Rückzug bis hin zur Isolation, körperlichen Schädigung und Verwahrlosung und "Vermüllung" (= hoarding), sodass der letzte Ausweg evtl. der Suizid ist.
→ II: Durch die kombinierte Behandlung aus Psycho- und Pharmakotherpie hat sich die Prognose durch deutliche Reduktion des Leidensdrucks verbessert. Ein Sistieren der Symptomatik manifestiert sich jedoch nur sehr selten (< 10%).