→ Definition: Unter die Esstörungen fallen nach ICD-10 die Anorexia nervosa und die Bulimia nervosa. Des Weiteren fällt hierunter nach DSM-IV die Binge-Eating-Störung. Allen gemeinsam ist eine Störung im Ess- und Gewichtskontrollverhalten, in der Körperwahrnehmung sowie ein ausgeprägt vermindertes Selbstwertgefühl. Folge ist eine zwanghafte Beschäftigung mit dem Essen. Wichtig hierbei ist auch, dass die Symptomatik nicht auf eine organische oder andere psychische Erkrankung zurückzuführen ist.
→ I: Anorexia nervosa: Absichtliche Gewichtsreduktion und Aufrechterhaltung eines für das Alter zu niedrigen Körpergewichtes, aus Angst zu dick zu sein/werden.
→ II: Bulimia nervosa: Episodische Heißhungerattacken mit Kontrollverlust und nachfolgenden Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, Laxanzienabusus, Fasten..
→ III: Binge-eating-Störung: Wiederholte Heißhungerattacken mit Fressanfällen und Kontrollverlust ohne nachfolgende Gegenmaßnahmen.
→ IV: Zu den Essstörungen zählt unter anderem auch die Adipositas, die bei einem Body-Mass-Index von > 30 diagnostiziert wird.
→ Klinisch-relevant:
→ A) Auch wenn die klinischen Symptome zwischen Bulimia - und Anorexia nervosa sehr unterschiedlich sind, so können sie doch kombiniert auftreten und/oder ineinander übergehen (= Bulimarexie).
→ B) Als klinisches Maß zur Einschätzung der Körperfettmasse hat sich der Body-Mass-Index (BMI = Körpergewicht kg/Körpergröße m2) etabliert:
→ Epidemiologie:
→ I: Anorexia nervosa: In der Gesamtbevölkerung liegt das Erkrankungsrisiko bei 1%, wobei junge Frauen deutlich häufiger als Männer betroffen sind (12:1). Das Manifestationsalter liegt zwischen dem 15.-25. Lebensjahr. In den letzten Jahren nahm die Prävalenz bei Männern jedoch deutlich zu (hohe Dunkelziffer).
→ II: Bulimia nervosa: Das Erkrankungsrisiko liegt deutlich höher mit 1-3%. Auch hier sind Frauen häufiger betroffen als Männer (20:1), wobei das Manifestationsalter zwischen dem 20.-30. Lebensjahr höher ist.
→ III: Binge-Eating-Störung: Sie ist die häufigste Esstörung. Die Lebensprävalenz liegt bei Frauen bei > 3%, bei Männern bei 2%.
→ Klinisch-relevant: Bei der Anorexia besteht eine hohe Sterberate, infolge von extremer Unterernährung, Elektrolytverschiebungen (Rhythmusstörungen) und Suizidalität.
→ Ätiologie: Bei den Essstörungen handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen, wobei eine deutlich erhöhte individuelle Vulnerabilität der Persönlichkeit von Bedeutung ist.
→ I: Genetische Faktoren: Für die Anorexia und Bulimia sind genetische Faktoren belegt. Bei der Anorexia weisen Zwillingsstudien eine Konkordanzrate von 50% und bei zweieiigen Zwillingen immerhin von 10% auf.
→ II: Biologische Faktoren: Bekannt ist, dass das Hunger- und Sättigungsgefühl in Zentren des Hypothalamus reguliert werden. Weitere Regulationsmechanismen für das Essverhalten liegen im Bereich des Magendarmtraktes, bei denen bestimmte Hormone wie CRF, Leptin und Serotonin ein wichtige Rolle spielen. Es werden Störungen innerhalb der verschiedenen Regulationsmechanismen angenommen, die zu einer Essstörung führen können.
→ III: Soziokulturelle Faktoren: Tatsachen, wie das Schlanksein als neues Schönheitsideal, die einen gesellschaftlichen Druck auf das Individuum aufbauen, sind ausschlaggebend.
→ IV: Psychosoziale Faktoren: Auch spielen ungünstige Familienverhältnisse wie überbehütender Erziehungsstil, Rigidität, hoher Leistungsanspruch, Konfliktvermeidung eine wichtige Rollen bei der Entstehung. Aber auch entwichlungspsychologische Faktoren wie Verlusterlebnisse (z.B. der Tod eines nahen Angehörigen oder engen Freundes) oder traumatisierende Ereignisse wie z.B. sexuelle Misshandlungen oder massive Kränkungserlebnisse etc. können die Genese einer Essstörung triggern.
→ V: Prämorbide Persönlichkeitsstruktur: Die Betroffenen sind meist ängstlich, haben ein geringes Selbstwertgefühl, haben Misstrauen gegenüber zwischenmenschlichen Beziehungen und eine Ineffektivität bei der Bewältigung von Alltagsproblemen. Weitere wichtige Persönlichkeitsmerkmale der Betroffenen sind u. a.:
→ 1) Leistungsorientiertheit,
→ 2) Ehrgeiz,
→ 3) Beharrlichkeit, aber auch
→ 4) Depressive Verstimmung,
→ 5) Introvertiertheit etc.
→ VI: Psychoanalytische Faktoren: Hierbei wird die Essstörung durch einen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt, im Sinne eines Versuchs der verzögerten elterlichen Trennung bzw. Autonomie und Kontrolle bei fehlender Trennung, begründet.
→ VII: Verhaltenstherapeutische Faktoren: Entwicklung eines Teufelskreislaufes zwischen gezügeltem Essverhalten, einer Störung der psychophysiologischen Reaktion auf Hunger und Sättigung und nicht zuletzt der Angst vor Gewichtszunahme.
→ Klinisch-relevant: Gemeinsame zentrale Charakteristika von Anorexia und Bulimia sind:
→ A) Gestörte Körperwahrnehmung,
→ B) Restriktives Essverhalten,
→ C) Übermäßige Beschäftigung mit Nahrungsaufnahme, Körpergewicht und Figur.
→ D) Ausgeprägte Angst vor der Gewichtszunahme.
→ Komorbiditäten: Insbesondere bei der Anorexia und der Bulimia nervosa findet man sowohl somatische als auch psychische Komorbiditäten häufig:
→ I: Somatische Komorbiditäten: Mit den Esstörungen assoziierte Erkrankungen:
→ 1) Elektrolytstörungen vor allem die Hypokaliämie, aber auch Hypokalzämie und Hypomagnesiämie infolge eines Laxanzien- bzw. Diuretikaabusus rezidivierenden Erbrechens.
→ 2) Hypovolämie durch Flüssigkeitsrestriktion Laxanzien- und Diuretikaabusus.
→ 3) Kardiale Störungen: Wie bradykarde Herzrhythmusstörungen, orthostatische Hypotonie, Kardiomyopathie, selten Perikarderguss.
→ 4) Gastrointestinale Störungen: Zahnschmelzdefekte, Karies v.a. bei der Bulimia, Ösophagitis, Motilitätsstörungen etc.
→ 5) Endokrine-Störungen: Amenorrhö, Eniedrigung der Trijodthyronin-Werte, sowie erhöhte Kortisolspiegel insbesondere bei der Anorexia und Osteoporose durch erniedrigte Östrogenspiegel.
→ 6) Blutbildveränderungen: Mit Anämie, Leukozytopenie und Thrombozytopenie.
→ II: Psychiatrische Störungen:
→ 1) Depression,
→ 2) Angststörungen,
→ 3) Zwangsstörungen,
→ 4) Persönlichkeitsstörungen,
→ 5) Substanzmissbrauch.