Definition:

→ I: Bei der Bulimia nervosa handelt es sich um eine Ess-Brech-Sucht, die gekennzeichnet ist durch das Auftreten regelmäßiger (bzw. episodischer) Fressattacken mit nachfolgenden gegenregulatorischen Maßnahmen.

II: Charakteristischerweise werden große Mengen hochkalorischer Nahrungsmittel (bis zu 15000 Kilokalorien) innerhalb eines kurzen Zeitintervalls aufgenommen und anschließend wieder erbrochen.

→ III: Während der Fressattacke findet ein Kontrollverlust über die Menge, Art und Beendigung der Nahrungsaufnahme statt. Nach dem Erbrechen entstehen Gefühle wie Scham, Schuld und depressive Verstimmung.

→ IV: Zur Gewichtskontolle bzw. -reduktion werden Diuretika oder Laxantien eingenommen bzw. Diätphasen eingelegt.

 

Epidemiologie:

→ I: Die Prävalenz, an Bulimie zu erkranken, liegt bei 1-4,2% und ist somit eine deutlich häufigere Essstörung als Anorexia nervosa.

II: Frauen sind mit 20:1 deutlich häufiger betroffen als Männer.

→ III: Der Manifestationsgipfel liegt in der frühen Adoleszenz (später als bei der Anorexia).

 

Ätiologie:

→ I: Die Entstehung der Bulimia ist multifaktoriell im Sinne des Vulnerabilitäts-Stress-Modells und entspricht weitestgehend den Faktoren der Anorexia nervosa.

→ II: Es bestehen Erklärungsversuche und Hypothesen; hierzu zählen:

→ 1) Neuerobiologische Faktoren: Störungen im serotonergen System mit verminderter Serotonintransmission.

→ 2) Psychodynamische Faktoren: Bei den Betroffenen herrscht eine primäre Selbstunsicherheit, einer Störung des Körperbildes sowie eine verminderte Frustrationstoleranz. Es kommt häufig zu einer Verleugnung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse durch eine frühkindliche Ambivalenz zwischen Symbiose und Separation.

→ III: Häufig findet man in den Familien von Bulimie Patienten psychische Störungen wie Angsterkrankungen, affektive Störungen, Alkoholabhängigkeit und andere Suchterkrankungen.

316 Risikofaktoren für die Anorexia nervosa und Bulimia nervosa

 

Klinik:

→ I: Psychische Symptome:

→ 1) Störungen der eigenen Körperwahrnehmung mit dem Gefühl, zu dick zu sein.

→ 2) Auftreten rezidivierender Essattacken mit nachfolgenden gegenregulatorischen Maßnahmen wie Erbrechen oder Einnahme von Laxantien bzw. Diuretika. Die Essanfälle treten zumeist beim Alleinsein, in der Regel im Geheimen und abends auf. Sie können durch negative Stressoren, die mit Gefühlzuständen wie Depression, Wut, Angst, aber auch durch Einsamkeit, etc. getriggert werden.

→ 3) Während der Essattacken besteht ein vollständiger Kontrollverlust und nach dem Erbrechen, Gefühle wie Scham und Schuld. Das Erbrechen wird initial selbst durch Auslösen des Würgereflexes induziert, im weiteren Krankheitsverlauf funktioniert es dann reflexartig, unterstützt durch z.B. Trinken von größeren Wassermengen.

→ 4) Permanente Beschäftigung mit dem Thema Essen.

→ 5) Die Betroffenen sind meist normal- bis leicht übergewichtig und legen zur Gewichtskontrolle bzw. -reduktion intermittierend Diäten ein.

→ 6) Die Patienten weisen eine deutliche Selbstwertproblematik auf.

 

Klinisch-relevant: Im Vergleich zur Anorexia weisen Patienten mit Bulimie eine extrovertierte und impulsive Charakterstruktur auf.

 

II: Somatische Symptome:

→ 1) Schwellung der Speicheldrüsen, Parotitis und Schmelzdefekte der Zähne mit konsekutiver Kariesentwicklung aufgrund des sauren Mageninhaltes.

→ 2) Pharyngitis, Ösophagitis, Gastritis,

→ 3) Dehydratation, Elektrolytverschiebungen mit HypomagnesiämieHypokaliämie und hypochlorämisch Alkalose, aber auch Herzrhythmusstörungen, arterielle Hypotonie und Herzinsuffizienz.

→ 4) Gastrointestinal: Mit Meterorismus, Obstipation oder Diarrhoe.

→ 5) Russel-Zeichen: Hierbei handelt es sich um Hyperkeratosen über den Fingergrundgelenken (durch regelmäßigen Kontakt mit den Schneidezähnen), zumeist verursacht durch selbstinduziertes Erbrechen.

→ 6) Diabetische Entgleisung,

→ 7) Rezidivierende Pankreatitiden,

→ 8) Nierenfunktionsstörungen bis hin zur chronischen Niereninsuffizienz.

→ 9) Weitere Symptome: Sind trockene Haut, Menstruationsstörungen und Muskelschwäche.

 

Einteilung: Die Bulimia nervosa wird nach DSM-IV in 2 Subtypen unterteilt:

→ I: Non-Purging-Typ: Bei diese Form sind die gegenregulatorischen Maßnahmen (nach einer Fressattacke) sportliche Aktivität oder vorübergehende Diät.

→ II: Purging-Typ: Hier sind die gegenregulatorischen Maßnahmen Erbrechen oder die Einnahme von Laxantien, Diuretika z.B. Schleifendiuretika etc.

 

Komorbiditäten: Sind bei der Bulimia nervosa insbesondere:

→ I: Affektive Störungen, insbesondere die Depression,

II: Angststörungen (gerade soziale Phobien), aber auch Zwangsstörungen.

III: Alkoholabhängigkeit, Substanzenmissbrauch.

IV: Persönlichkeitsstörungen (Borderline PS), aber auch Störungen der Impulskontrolle wie Stehlen, pathologisches Kaufverhalten und Selbstverletzung.

 

Diagnose: Nach ICD-10 besteht eine Bulimie, wenn folgende Kriterien vorhanden sind:

→ I: Störung der Selbstwahrnehmung mit dem Gefühl, zu dick zu sein bzw. zu werden.

→ II: Permanente Beschäftigung mit dem Thema Essen und dauerhaftes Verlangen nach großen Mengen Nahrung, ohne bestehendes Hungergefühl.

→ III: Vorhandensein gegenregulatorischer Maßnahmen wie selbstinduziertes Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln, Diuretika, Schilddrüsen-Medikamenten, Appetitzüglern, etc.

IV: Diese Symptome müssen mindestens über 3 Monate und mindestens 2x/Woche bestehen.

629 Diagnosekriterien der Bulimia nervosa

 

Differenzialdiagnose: Von der Bulimia nervosa müssen u.a. nachfolgende somatische und psychische Störungen abgegrenzt werden:

→ I: Somatische Erkrankungen: Hyperthyreose, Diabetes mellitus (D.m. Typ 1/ D.m. Typ 2), Tumoren im Bereich Hypothalamus oder der Hypophyse.

II: Psychische Erkrankungen: Andere Essstörungen wie die Anorexia nervosa und Binge-eating-Störung, aber auch affektive Störungen (atypische Depression) und die Schizophrenie.

 

  Therapie: Bulimische Patienten werden zumeist ambulant behandelt (Abb.: Kriterien für die stationäre Behandlung bei bestehender Esstörung). Das multimodale Therapiekonzept ähnelt dem der Anorexia nervosa und beinhaltet sowohl die Ernährungsrehabilitation mit Ernährungsberatung und Behandlung somatischer Komplikationen, als auch die psychosoziale Rehabilitation.

I) Allgemein: Eine stationäre Behandlung der Bulimia nervosa ist vor allem bei nachfolgenden Komorbiditäten indiziert:

1) Schwerwiegenden somatischen Komplikationen (z.B. Elektrolytentgleisungen),

→ 2) Komorbiden, psychischen Störungen (wie Substanzmissbrauch, Impulskontrollstörungen, Suizidalität, etc.),

→ 3) Psychosozialen Stressoren (z.B. massiv gestörte Familienbeziehungen, sexueller Missbrauch etc) und nicht zuletzt

→ 4) Ausbleiben einer erfolgreichen ambulanten Therapie.

II: Psychotherapie:

→ 1) Mittel der Wahl ist die kognitive Verhaltenstherapie, die folgende Punkte beinhaltet:

→ A) Psychoedukation durch u.a. Informationsvermittlung sowie motivationsfördernde Interventionen (niederschwellige Therapie wie z.B. Selbsthilfebücher, internetgestützte Therapien, CD-Rom),

→ B) Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells,

→ C) Interventionen bezüglich der Selbstwahrnehmung, des Selbstwertgefühls durch Umstrukturierung und Modifikation dysfunktionaler Grundannahmen bzw. Kognitionen.

→ D) Steigerung der Selbstkontrolle durch Selbstbeobachtung (Ess-Protokolle) und Einhalten einer strukturierten Nahrungsaufnahme zur Normalisierung des Essverhaltens (z.B. auch durch Modelllernen).

→ E) Aufbau interpersoneller Fähigkeiten durch z.B. Aufbau sozialer Kompetenz und nicht zuletzt

→ F) Methoden zur Rückfallprophylaxe.

 → 2) Weitere Therapieverfahren: Sind unter anderem:

A) Interpersonelle Psychotherapie

→ B) Psychodynamische Therapie und

→ C) Gerade bei jungen Patientinnen kann primär auch eine Familientherapie erfolgen.

→ III: Medikamentöse Therapie: Sie ist immer nur eine Begleittherapie; das Mittel der 1. Wahl ist Fluoxetin aus der Gruppe der SSRI.

1) Fluoxetin: Frühzeitige Minderung der Fressattackenfrequenz und des Erbrechens.

→ 2) Dosierung: Die Dosierung ist mit 60mg/d deutlich höher als bei der Behandlung der Depression (20mg/d) und sollte über ein Zeitintervall von mindestens 4 Wochen erfolgen. Bei Ansprechen auf die Behandlung liegt die mittlere Therapiedauer bei 6-12 Monaten (der klinische günstige Therapieerfolg sollte sich nach etwa 1 Woche einstellen).

 

Verlauf/Prognose:

→ I: Unbehandelt verläuft die Bulimie chronisch-fluktuierend.

→ II: Behandelte Patienten sind in 50% der Fälle nach 5 Jahren symptomfrei, 30 % weisen einen Wechsel zwischen symptomfreien Intervallen und Rezidiven auf und ca. 20% gehen in einen chronischen Krankheitsverlauf über.

→ III: Ein Übergang in eine Zwangsstörung, affektive Störung oder Abhängigkeitsstörung ist möglich.

→ IV: Die Prognose wird durch nachfolgende Faktoren beeinflusst:  

→ 1) Prognostisch günstig: Ist ein früher Krankheitsbeginn.

→ 2) Prognostisch ungünstig: Sind komorbide, psychische Störungen, Impulsivität und später Krankheitsbeginn.

 

Exkurs: Eine erhöhte Prävalenz für die Bulimie-Erkrankung findet man bei Patientinnen mit Diabetes mellitus Typ I (im Vergleich zu Gesunden). Dabei beginnt die Essstörung erst nach Manifestation der Diabetes. Äthiologisch stehen u.a. nachfolgende Ursachen für die Entstehung zur Diskussion:

→ I: Die Belastung einer chronischen Erkrankung,

→ II: Eine häufig durch die Insulin-Substitution initial-auftretende Gewichtszunahme,

III: Eine Veränderung der familiären Interaktion durch die Diabetes-Erkrankung und

→ IV: Insulin Purging: Das bewusste Herabsetzten der Insulindosis (gerade der abendliche Dosis) zur Gewichtsreduktion. Im Alter nimmt das Insulin-Purging zu.

 

  Klinisch-relevant: Bei jungen Frauen mit schlecht einstellbarem Diabetes immer auch an eine komorbide Essstörung denken.