→ Definition: Beim selektiven Mutismus handelt es sich um ein subtotales Verstummen gegen über bestimmten Personen und/oder Situationen bei erhaltenem Sprechvermögen (ohne Hinweis für eine weitere organische oder psychische Grunderkrankung).
→ Epidemiologie:
→ I: Der elektive Mutismus stellt mit einer Prävalenz < 1% eine seltene Erkrankung dar.
→ II: Typischerweise tritt die Störung zumeist zwischen dem 3.-8. Lebensjahr auf. Nach dem Alter klassifiziert man zwischen:
→ 1) Frühmutismus: Ein erster Altersgipfel liegt zwischen dem 3.-4. Lebensjahr, meist verbunden mit Integrationsproblemen im Kindergarten.
→ 2) Spätmutismus: Hier liegt der Altersgipfel zwischen dem 6.-7. Lebensjahr und steht in direktem Zusammenhang mit der schulischen Eingliederung.
→ III: Im Vergleich zu anderen Störungen sind Mädchen häufiger als Jungen (M : J = 1,2-2 : 0) betroffen.
→ Ätiopathogenese: Die Ursachen des selektiven Mutismus sind bis heute noch weitgehend unbekannt; man nimmt jedoch ein multifaktorielles Geschehen aus psychosozialer Belastung, prämorbider Persönlichkeitsstruktur, etc. an.
→ I: Biologische Prädisposition: Charakteristischerweise erscheinen sie in ihrem Wesen ängstlich, schüchtern und zurückgezogen. Genetische Faktoren und Modelllernen können dies begünstigen.
→ II: Psychosoziale Faktoren: Psychosoziale Belastungen sowie traumatische Erlebnisse (insbesondere Missbrauch) fördern die Entwicklung eines mutistischen Verhaltens.
→ III: Entwicklungsfaktoren: Hierbei wird davon ausgegangen, dass ein Kind, das eine massive Angst erlebt, besonders sensitiv gegenüber verbalen Interaktionen reagiert. Ausgangspunkt ist eine allgemeine hohe Sensibilität für äußere und innere Reize sowie eine selektive multimodale Überlastungsreaktion,
→ IV: Familiäre Faktoren: Familienanamnestisch zeigt sich häufig eine übertriebene soziale Ängstlichkeit und evtl. Mutismus bei einem Elternteil. Zudem sind nicht selten elterliche Konflikte bzw. Disharmonie (Trennung, Scheidung), Überprotektion oder weitere psychische Störungen (z.B. Angststörung, Depression, Persönlichkeitsstörungen) eruierbar.
→ Klinik: Beim selektiven Mutismus handelt es sich um eine pathologische Sprechverweigerung; die Sprechfähigkeit bleibt gegenüber wenigen vertrauten Personen (z.B. Mutter, Geschwister, etc.) jedoch erhalten.
→ I: Die klinische Symptomatik entwickelt sich zumeist allmählich und es existieren Frühsymptome wie erhebliche Kontaktscheue und zeitlich limitierte Sprechverweigerung.
→ II: Im weiteren Krankheitsverlauf lässt sich eine zunehmende Verarmung des Sprachwerkzeugs bei zumeist normaler sprachlicher Entwicklung beobachten.
→ III: Zudem manifestiert sich bei den Patienten oftmals eine ausgeprägte Scheue und Gehemmtheit oder aber auch eine unterschwellige Missmutigkeit und Trotzigkeit, die im vertrauten Rahmen in Aggressivität umschlagen kann.
→ IV: Weitere Merkmale: Mutistischer Kinder sind u.a.:
→ 1) Entwicklungsverzögerung und leichte zerebrale Dysfunktion.
→ 2) Prämorbide soziale Scheue und Gehemmtheit.
→ 3) Weitere psychische Störungen wie Tics, Enuresis, Enkopresis.
→ 4) Familiärer Häufung auffälliger Persönlichkeiten und nicht zuletzt
→ 5) Soziale Isolation.
→ Komorbiditäten: Bei dieser Form des Mutismus lässt sich eine hohe Komorbiditätsrate mit weiteren psychischen Störungen eruieren; hierzu zählen u.a.:
→ I: Angststörungen inbesondere die soziale Phobie.
→ II: Essstörungen und Zwangsstörungen.
→ III: Schlafstörungen und Depression.
→ IV: Hyperaktivität und Tics, etc.
→ V: Zusätzlich lassen sich Entwicklungsstörungen der Motorik und Visuomotorik sowie soziale Unreife häufiger beobachten.
→ Diagnose: Die Diagnose des selektiven Mutismus wird klinisch insbesondere durch die Anamnese (Fremdanamnese mit Exploration der Eltern, Erzieher, Lehrer, etc.) und Verhaltensbeobachtung gestellt; Zusätzliche HNO- und neurologische Untersuchung sind obligat.
→ Differenzialdiagnose: Vom selektiven Mutismus müssen nachfolgende psychische – und somatische Störungen abgegrenzt werden:
→ I: Somatisch:
→ 1) Hirnorganische Erkrankungen mit Sprachstörungen,
→ 2) Aphasie,
→ 3) Taubstummheit, etc.
→ II: Psyiatrisch:
→ 1) Passagerer Mutismus als Ausdruck von Trennungsängsten.
→ 2) Tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie z.B. Asperger-Syndrom oder der frühkindliche Autismus oder das Rett-Syndrom.
→ 3) Psychotische Entwicklungen im Sinne der Schizophrenie.
→ 4) Audimutitas: (= motorische Hörstummheit) Hierbei handelt es sich um eine Sprachentwicklungsstörung vor Abschluss des Spracherwerbs bei regelrechtem Hörvermögen, intaktem Sprachwerkzeug, altersentsprechendendem Sprachverständnis und ausreichender Intelligenz.
→ Therapie: Im Vordergrund steht die verhaltenstherapeutische -, familien- und tiefenpsychologische Interventionen. Wichtige hierbei ist die Schaffung eines „angstfreien“ Milieus durch Vermeidung von Vorwürfen und Überforderung des Kindes.
→ I: Verhaltenstherapie: Verhaltenstherapeutische Maßnahmen sind u.a.:
→ 1) Shaping: Hierbei erfolgt der Aufbau komplexer gewünschter Verhaltensweisen in kleinen Schritten; es werden initial erste Ansätze des Zielverhaltens positiv verstärkt, im weiteren Therapieverlauf verändert sich das Kriterium der Verstärkung stufenweise (in Richtung Zielverhalten).
→ 2) Modelllernen: Neulernen der Kommunikation kann durch entsprechendes Beobachten erfolgen.
→ 3) Fociertes Sprechen: Nach Psychoedukation und Beziehungsaufbau verweilt der Therapeut so lange beim Kind bis es zumindest ein Wort gesprochen hat. Der Therapeut wechselt dabei sein Verhalten zwischen supportivem Auftreten, Verbalisation der kindlichen Gefühle, Spielen mit dem Kind bis hin zur Nichtbeachtung.
→ 4) Expositionsverfahren (nimmt wichtige Stellung in der Therapie ein).
→ II: Weitere unterstützende Interventionen sind Bewegungs-, Musik- und Kunsttherapie, da die Sprache hierbei ein wichtiges Instrument ist.
→ III: Behandlung komorbider Störungen wie Defizite im sozialen Umgang Enuresis, Enkopresis, aber auch familiärer Konflikte. Besteht z.B. eine komorbide soziale Phobie kann eine pharmakologische Therapie mit SSRI erwogen werden.
→ Prognose:
→ I: Viele Patienten mit selektivem Mutismus überwinden ihre Sprechhemmung innerhalb von Monaten bis Jahren; nicht selten kommt es zur Spontanremission.
→ II: Ein prognostisch ungünstiger Faktor ist das Auftreten des Mutismus nach dem 12. Lebensjahr.
→ III: 1/3 der Patienten weisen im Erwachsenenalter auch Störungen in der Kommunikation und sozialen Interaktion auf.