→ Definition: Unter tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (= autistisches Syndrom) versteht man Störungsbilder, die mit einer Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, Kommunikation, Interessenbildung sowie stereotypen Verhaltensmustern einhergehen. Sie werden klinisch als Autismus-Spektrum-Störungen bezeichnet und umfassen insbesondere:
→ I: Frühkindlicher Autismus (= Kanner-Syndrom),
→ II: Asperger-Syndrom,
→ III: Atypischer Autismus und
→ IV: Das Rett-Syndrom.
→ Epidemiologie:
→ I: Nach aktuellen Untersuchungen liegt die Prävalenz der Autismus-Spektrum-Störung in der Allgemeinbevölkerung bei ca. 1%, wobei Jungen 2-3mal häufiger betroffen sind als Mädchen.
→ II: Die Geschlechterverteilung unterscheidet sich bei den einzelnen Störungen deutlich:
→ 1) Frühkindlicher Autismus: 3 : 1 (M/W).
→ 2) Asperger-Syndrom: 8 : 1 (M/W).
→ 3) Atypischer Autismus: 3 : 1 (M/W).
→ 4) Das Rett-Syndrom manifestiert sich deutlich seltener als der frühkindliche Autismus und betrifft fast ausschließlich nur Mädchen.
→ Ätiopathogenese: Die Genese der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen ist bis heute noch nicht genau geklärt; man geht jedoch von einem multifaktoriellen Geschehen aus, bei dem insbesondere genetische – und neurobiologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen:
→ I: Genetische Faktoren: Eine genetische Veranlagung zeigen Familien- und Zwillingsstudien, bei denen eineiige Zwillinge eine Konkordanzrate bis zu 90% und zweieiige Zwillinge von bis zu 25% aufweisen.
→ II: Neuroanatomische Faktoren: Es zeigen sich zahlreiche hirnmorphologische Abweichungen bei Patienten mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen; hierzu zählen u.a.
→ 1) Allgemein vergrößertes Hirnvolumen während der Entwicklung.
→ 2) Gestörte Hirnentwicklung im Bereich des Frontal- und Temporallappens mit Anomalien der weißen Substanz im Bereich des medialen und dorsalen präfrontalen Kortex, des Gyrus temporalis superior sowie des Corpus callosum; aber auch die Dichte der grauen Substanz scheint in diesen Arealen erhöht zu sein.
→ 3) Des Weiteren lassen sich in der Bildgebung bei Patienten mit autistischem Syndrom eine geringere Konnektivität zwischen einzelnen Hirnregionen nachweisen.
→ III: Neurobiologische Faktoren: Ein weiterer Ansatz ist die Dysfunktion neurotropher Faktoren in Verbindung mit Veränderungen freier Radikaler. Zudem zeigen sich Störungen in den unterschiedlichen Neurotransmittersystemen, insbesondere im serotonergen und dopaminergen System.
→ IV: Weitere Risikofaktoren:
→ 1) Insbesondere Infektionskrankheiten wie Virusinfektionen (z.B. Rötelinfektion), aber auch schwere bakterielle - während der Schwangerschaft,
→ 2) Frühgeburtlichkeit,
→ 3) Mütterlicher Diabetes mellitus, sowie
→ 4) Die Einnahme von bestimmten Medikamenten während der Schwangerschaft (z.B. SSRI, Valproat, etc.) erhöhten das Risiko für die Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung deutlich.
→ Klinik: Im Vordergrund der klinischen Symptomatik steht die Beeinträchtigung sozialer Fähigkeiten mit:
→ I: Vernachlässigung sozioemotionaler Signale, die für die zwischenmenschlichen Interaktionen von besonderer Bedeutung sind.
→ II: Das gedankliche Einfühlen (= Theory of mind) in andere Menschen fällt schwer. Dies führt vor allem im Kombination mit ausgeprägtem Konkretismus zu Schwierigkeiten im Verstehen von Absichten, Witz und nicht zuletzt von Ironie.
→ III: Auch die eingeschränkte Kommunikation lässt zumeist altersentsprechende Beziehungen nicht zu.
→ IV: Weitere Symptome: Sind u.a.:
→ 1) Stereotype und repetitive Verhaltensweisen sowie Rituale, die bei Nicht-Einhalten zur panischen Veränderungsangst führt.
→ 2) Beharren auf spezifische Gewohnheiten und ritualisierte Handlungen.
→ 3) Des Weiteren manifestieren sich Störungen im Schlaf-Wach-Rhythmus (Schlafstörungen), Essstörungen, evtl. selbstverletzendes oder fremdaggressives Verhalten sowie Hyperaktivität.
→ Komorbiditäten: Die Autismus-Spektrum-Störungen sind nicht selten mit weiteren neuropsychiatrischen Störungen vergesellschaftet; hierzu zählen insbesondere:
→ I: Tic-Störungen,
→ II: ADHS,
→ III: Erhöhte Ängstlichkeit bis hin zu spezifischen Phobien.
→ IV: Besonders Patienten mit Asperger-Syndrom weisen ein erhöhtes Risiko für psychotische Störungen und die Schizophrenie auf.
→ V: Weitere Komorbiditäten sind Zwangsstörungen, Schlafstörungen, sowie selbstverletzendes oder fremd- Verhalten.
→ VI: Weitere Erkrankungen: Es wurde eine Vielzahl von somatischen Erkrankungen identifiziert, die mit den Autismus-Sepektrum-Störungen einhergehen:
→ 1) Neurofibromatose,
→ 2) Tuberöse Sklerose,
→ 3) Fragiles X-Syndrom,
→ 4) Stoffwechselstörungen, insbesondere die Phenylketonurie und
→ 5) Vor allem beim frühkindlichen Autismus manifestiert sich in 25% der Fälle eine Epilepsie.
→ Diagnose: Bei der Diagnose der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen spielen vor allem nachfolgende Untersuchungstechniken eine bedeutende Rolle:
→ I: Detaillierte Anamneseerhebung mit Befragung der Bezugspersonen sowie die klinische Verhaltensbeobachtung des Kindes in verschiedenen Situationen.
→ II: Tespsychologische Verfahren: Hierzu zählen u.a.:
→ 1) Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen,
→ 2) Revidiertes -Autismus-Diagnostisches-Interview und die
→ 3) Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom.
→ 4) Zudem erfolgt eine umfassende Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik mit entsprechenden Testverfahren.
→ III: Auch bildgebende Verfahren, eine neurologische Untersuchung mit Seh- und Hörprüfung und nicht zuletzt eine EEG-Untersuchung (mit erhöhter zerebraler Erregungsbereitschaft) gehören zur Standarddiagnostik.
→ Differenzialdiagnose: Von den Autismus-Spektrum Störungen müssen insbesondere nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden:
→ I: Intelligenzminderung mit emotionaler Verhaltensstörung (ohne Autismus).
→ II: Tic-Störungen und Tourette-Syndrom,
→ III: Depressive Störungen,
→ IV: Psychotische Störungen, schizoide Persönlichkeitsstörung und Schizophrenie,
→ V: ADHS,
→ VI: Mutismus bzw. selektiver Mutismus.
→ VII: Reaktive Bindungsstörungen, etc.
→ Therapie: Wichtig für die Prognose ist die frühzeitige Diagnosestellung sowie die umfangreiche Förderung. Behandlungsziele sind die Reduktion der Symptomatik sowie der Auf- und Ausbau von Fertigkeiten, die es dem Patienten ermöglichen, ein möglichst eigenständige Leben zu führen. Hierbei hat sich ein multimodales Behandlungskonzept etabliert, das nachfolgende Ansätze beinhaltet:
→ I: Verhaltenstherapeutische Interventionen,
→ II: Pädagogische Maßnahmen und Frühförderung,
→ III: Medikamentöse Therapie sowie
→ IV: Körperbezogene und kreative Verfahren.
→ Prognose:
→ I: Zumeist lässt die Schwere der Symptomatik bis zur Pubertät nach und ändert sich z.T im Erwachsenenalter, jedoch bleiben die Kernsymptome in aller Regel bestehen.
→ II: Insbesondere bei adäquater frühkindlicher Förderung können Patienten mit frühkindlichem Autismus die Sprache erlernen.
→ III: Patienten mit Asperger-Syndrom sind in der Regel deutlich besser integriert als Patienten mit frühkindlichem Autismus.