→ Definition:
→ I: Münchhausen-Syndrom: Beim Münchhausen-Syndrom handelt es sich um eine psychiatrische Störung, bei der die Patienten somatische oder psychische Krankheiten oder Behinderungen vortäuschen bzw. klinische Symptome durch manipulatives und/oder selbstverletzendes Verhalten hervorrufen.
→ II: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: (= Münchhausen-by-proxy-Syndrom) Hierbei kommt es zum Erzeugen bzw. Vortäuschen einer Erkrankung an einer anderen Person und stellt häufig eine spezielle (bizarre) Form der Kindesmisshandlung dar (= körperliche Symptome werden beim Kind durch eine Bezugsperson, meist durch die Mutter, verursacht).
→ Epidemiologie:
→ I: Artifizielle Störung:
→ 1) Die Prävalenz für artifizielle Störungen wird in Deutschland auf 0,6-0,8% geschätzt.
→ 2) Frauen sind 3x häufiger als Männer betroffen.
→ 3) Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter auftreten, jedoch beginnen erste kurze Episoden zumeist schon in der Pubertät und frühen Adoleszenz.
→ II: Betroffene Frauen arbeiten meist in Gesundheitsberufen, Männer weisen komorbide Erkrankungen insbesondere Persönlichkeitsstörungen (dissoziale -, Borderline-PS) und Abhängigkeitserkrankungen auf und sind überwiegend sozial isoliert.
→ III: Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom wird häufig bei Frauen mit Kindern angetroffen.
→ Ätiologie: Sichere Erklärungsmodelle für die Entstehung der artifiziellen Störungen existieren nicht; Annahme sind u.a.:
→ I: Psychosoziale Faktoren: Oft berichten Patienten mit dem Münchhausen-Syndrom von körperlichen, emotionalen und sexuellen Missbraucherfahrungen (= schwerwiegende Störungen in der früh-kindlichen Entwicklung). Auch können häufige Krankheiten in der Familie oder die eigene Person betreffend das Verhalten triggern.
→ II: Lerntheoretische Faktoren: Stellen die aufrechterhaltende Bedingungen dar, da sie in Form von Zuwendung, Aufmerksamkeit etc. als positive Verstärker fungieren. Nicht selten sind die Betroffenen sozial isoliert und weisen ausgeprägte Defizite im Bereich der sozialen Kompetenz auf.
→ III: Psychdynamische Faktoren: Hierbei wird das Verhalten der Patienten als Reinszenierung früherer traumatischer Erfahrungen gedeutet, die sowohl fürsorgliche als auch verletzende Aspekte beinhalten. Durch die Wiederholung des traumatischen Ereignisses kann der Patient Kontrolle über die damalige, nicht beherrschbare Situationen erlangen. Abwehrmechanismus im Sinne Freuds ist die Identifikation mit dem Aggressor.
→ Klinik:
→ I: Im Vordergrund des Krankheitsbildes der artifiziellen Störung steht die Erzeugung somatischer Krankheitssymptome durch den Patienten.
→ II: Häufige klinische Beschwerden sind unklares Fieber, Wundheilungsstörungen, Blutungen, Anämie, unfallbedingte Schmerzen, aber auch Krebserkrankungen, hypertensive Krisen und z.T. schwere Hypoglykämien, die infolge von schädigenden Medikamenteneinnahmen, Schnittverletzungen etc. erreicht werden.
→ III: Das Zuführen der Verletzungen erfolgt willkürlich, fast zwanghaft und der Patient weist eine ausgeprägte Breitschaft auf, sich invasiven Diagnostiken und Therapien zu unterziehen.
→ IV: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Bei dieser Form täuschen zumeist die Mutter bei ihrem Kind Krankheiten vor, um medizinische Maßnahmen durchführen zu lassen.
→ Komorbiditäten: Die artifizielle Störung ist insbesondere mit nachfolgenden psychischen Störungen vergesellschaftet:
→ I: Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster-B, vor allem die dissoziale – und Borderline-PS.
→ II: Essstörungen,
→ III: Dissoziativen Störungen und
→ IV: Den Abhängigkeitserkrankungen.
→ Diagnose:
→ I: Anamnese:
→ 1) Eigen- und Fremdanamnese zur umfangreiche Eruierung der auslösenden Faktoren wie Traumata, Konflikte, Beziehungsabbrüche und deren Verstärker.
→ 2) Eine besondere Bedeutung kommt auch dem früheren Behandler zu, da er über die Häufigkeit und das Verhalten des Patienten Auskunft geben kann.
→ II: Apparative Untersuchung: Gründliche somatische Diagnostik zum Ausschluss organischer Ursachen.
→ Klinisch-relevant: Wichtige Aspekte, die auf eine artifizielle Störung hinweisen können:
→ Differenzialdiagnose: Von der artifiziellen Störung sind vor allem nachfolgende Erkrankungen abzugrenzen.
→ I: Simulation: Sie steht ihr nahe, jedoch existiert bei der artifiziellen Störung keine Motivation zur Verbesserung der äußeren Lebenssituation wie finanzielle Entschädigung, Vermeidung der Strafverfolgung, Flucht vor Gefahr etc.
→ II: Selbstverletzendes Verhalten bei anderen psychischen Störungen, insbesondere der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
→ III: Ausschluss einer lavierten Depression,
→ IV: Weitere Erkrankungen:
→ 1) Somatisierungsstörungen: Sind häufig organbezogene Symptome (kardiopulmonal, gastrointestinal etc.), bei denen keine ausreichend somatische Ursache eruiert werden kann. Sie werden jedoch nicht vom Patienten vorgetäuscht.
→ 2) Hypochondrische Störung,
→ 3) Histrionische PS oder
→ 4) Dissoziative Störungen.
→ Therapie: Die Behandlung der artifiziellen Störungen gestaltet sich zumeist als sehr problematisch. Gerade beim Münchhausen-by-proxy-Syndrom steht der Schutz des Kindes mit konsekutiver Trennung vom Elternteil im Vordergrund.
→ I: Psychotherapie:
→ 1) Initial wird insbesondere Augenmerk auf den Aufbau einer tragfähigen Patienten-Therapeuten-Beziehung gelegt.
→ 2) Anschließend kann eine unaggressive und flexible Konfrontation des Patienten mit den Ereignissen ohne nachfolgende Bestrafung erfolgen. Hierbei können mehrere Therapeuten unterschiedliche Funktionen (konfrontierender Part, vertrauender Part) übernehmen, um der therapeutischen Beziehung nicht zu sehr zu schaden.
→ 3) Weitere Therapiemaßnahmen: Sind u.a.:
→ A) Skillstraining,
→ B) Aufbau sozialer Kompetenz mit konsekutiver Bearbeitung interaktioneller Probleme.
→ C) Verbesserung der Körperwahrnehmung durch angenehme körperliche Erlebnisse.
→ II: Pharmakotherapie: Bei der artifiziellen Störungen existieren bisher keine pharmakotherapeutischen Richtlinien. Jedoch sollten komorbide Erkrankungen wie die Depression oder Angststörung medikamentös behandelt werden.
→ Verlauf/Prognose:
→ I: Der Beginn der Erkrankung ist häufig schleichend und steigt bezüglich der Anzahl der Arzt- und Krankenhausbesuche unterschiedlich stark an.
→ II: Die artifizielle Störung hat zumeist einen chronischen Krankheitsverlauf (60% der Patienten leugnen dauerhaft die Eigenbeteiligung an der Symptomatik) und hängt bezüglich seiner Prognose von nachfolgenden Faktoren ab. Als sehr ungünstig erweist sich:
→ 1) Das Nicht-Erkennen der Erkrankung durch den Arzt,
→ 2) Schwere komorbide Persönlichkeitsstörungen,
→ 3) Das Ausmaß der iatrogen herbeigeführten Schädigung.