→ Anatomie:
→ I: Das Acetabulum besteht aus dem
→ 1) Os ilium,
→ 2) Os ischii und
→ 3) Os pubis, die sich Y-förmig treffen.
→ II: Sie bilden die Hüftpfanne und dienen der Artikulation mit dem Femurkopf.
→ III: Nach Judet und Letournel setzte sich das Azetabulum morphologisch aus zwei Pfeilern zusammen:
→ 1) Ventraler Pfeiler/Iliopubischer Pfeiler: (= Vordere Acetabulum-Hälfte) Besteht aus dem vorderen Anteil der Darmbeinschaufel und dem oberen und unteren Schambeinast.
→ 2) Dorsaler Pfeiler/Ilioischialer Pfeiler: (= hintere Acetabulum-Hälfte) Der sich wiederum aus dem hinteren Anteil der Darmbeinschaufel bis zur Incisura ischiadica major und dem Sitzbein zusammensetzt.
→ Ätiopathogenese: Bei der Azetabulumfraktur ist eine hohe energetische Gewalteinwirkung erforderlich, wie der Sturz aus hoher Höhe oder infolge eines schweren Verkehrsunfalls (50% der polytraumatisierten Patienten).
→ I: Starke Gewalteinwirkung über den Schenkelhals und den Femurkopf.
→ II: Ventrale Krafteinwirkung im Sinne einer Amaturenbrettverletzung (dashboard-injury) auf das flexierte Becken. Es besteht die Gefahr der dorsalen Hüftgelenkluxation, Schädigung des N. ischiadicus und der Fraktur des dorso-kranialen Pfannenrandes.
→ III: Seitliche Gewalteinwirkung führen meist zu einer zentralen Hüftluxation mit konsekutiver Acetabulumtrümmerfraktur.
→ Klassifikation:
→ I: Einteilung nach Judet/Letournel:
→ 1) Typ 1: Dorsale Pfannenrandfraktur, sie ist die häufigste Form.
→ 2) Typ 2: Fraktur des dorsalen Pfeilers.
→ 3) Typ 3: Ventrale Pfannenrandfraktur,
→ 4) Typ 4: Fraktur des ventralen Pfeilers und
→ 5) Typ 5: Acetabulum-Querfraktur; hierbei sind beider Pfeiler betroffen.
→ II: AO-Klassifikation:
→ 1) A-Fraktur: Fraktur eines Pfeilers bei intaktem 2. Pfeiler.
→ 2) B-Fraktur: Acetabulumquerfraktur, wobei ein Teil des Pfannendaches in intakter Verbindung mit dem Os ilium steht.
→ 3) C-Frktur: Fraktur beider Pfeiler; hier ist das Acetabulum vollständig vom Becken getrennt.
→ Klinik:
→ I: Schmerzhafte Einschränkung der Hüftbeweglichkeit, wobei meist keine Belastbarkeit der betroffenen Seite besteht.
→ II: Immenser Stauchungs- und Kompressionsschmerz des Beckens.
→ III: Bei gleichzeitiger Hüftluxation zeigt sich eine fixierte, federnde Rotationsfehlstellung des Beines (meist innenrotiert und verkürzt).
→ Begleitverletzungen:
→ I: Kettenverletzungen: Findet man in 75% der Fälle mit begleitenden Frakturen des Kalkaneus (Kalkaneusfraktur), Tibiakopfes, Schenkelhalses und nicht zuletzt der Wirbelkörper.
→ II: Nervenläsion: Besonders betroffen sind der N. ischiadicus oder der N. peroneus.
→ III: Gefäßverletzungen (v.a. die A. iliaca interna).
→ Diagnose:
→ I: Anamnese/klinische Untersuchung: DSM-Kontrolle zum Ausschluss von Nervenläsionen und Gefäßverletzungen (A. iliaca interna).
→ II: Bildgebende Verfahren:
→ 1) Röntgen: Hierzu gehören die Beckenübersichtsaufnahme bzw. die a.p. Aufnahme, sowie 2 Schrägaufnahmen (45°) der betroffenen Seite:
→ A) Ala-Aufnahme: Es wird die gesunde Beckenhälfte um 45° angehoben. Dient der Beurteilung des vorderen Pfannenrandes und des dorsalen Pfeilers.
→ B) Obturator-Aufnahme: Die verletzte Beckenhälfte wird um 45° angehoben zur Beurteilung des hinteren Pfannenrandes und des vorderen Pfeilers.
→ 2) CT: Standardverfahren bei der Acetabulumfraktur zur genauen Beurteilung der Frakturfragment-Dislokation bzw. der Gelenkinkongruenz. Eine konsekutive 2D/3D-Rekonstruktion ist infolge der Frakturkomplexität und möglicher späterer Folgen für die Therapieauswahl häufig unerlässlich.
→ Klinisch-relevant: Der radiologische Nachweis einer Luxation bedarf immer einer notfallmäßigen geschlossenen Reposition in Vollnarkose und unter Muskelrelaxation.
→ Therapie: Therapieziel der Acetabulumfraktur ist die anatomische Wiederherstellung der Gelenkfläche, um eine postoperative Inkongruenzarthrose zu vermeiden. Initial ist eine sofortige Reposition eines luxierten Hüftkopfes indiziert.
→ I: Konservative Therapie:
→ 1) Indikation:
→ A) Nicht- bis gering-dislozierte, außerhalb der Belastungszone bestehende Frakturen mit ausreichender dorso-kranialer Überdachung.
→ B) Gut zentrierter Hüftkopf ohne Luxationstendenz,
→ C) Hohes Operationsrisiko.
→ 2) Verfahren: Suprakondyläre Extensionstherapie mit axialem Zug über einen Extensionsnagel (Steinmann-Nagel) für 3-6 Wochen. Der Extensionszug beträgt ca. 1/10 des Körpergewichtes.
→ II: Operative Therapie:
→ 1) Indikation: Ist eine Gelenkinkongruenz, Gelenkinstabilität mit Luxationsneigung oder intraartikuläre Frakturfragmente.
→ 2) Zugang:
→ A) Ventraler Zugang: Ilioinguinal nach Letournel.
→ B) Dorsaler Zugang: Nach Kocher-Lagenbeck.
→ C) Bei einer Fraktur beider Pfeiler kann ein erweiterter Zugang nach Maryland (vorderer + hinterer Zugang) erfolgen.
→ 3) Verfahren:
→ A) Anatomische Rekonstruktion der Gelenkflächen mit nachfolgender Platten- bzw. Schraubenosteosynthese.
→ B) Totalendoprothese (TEP) gerade bei geriatrischen Patienten mit ausgedehnter Zerstörung der Pfanne.
→ C) Applikation einer Single-shot-Antibiose mit 1,5g Cefuroxim.
→ 4) Postoperativ:
→ A) Hier erfolgt eine adäquate Physiotherapie und Mobilisation unter Entlastung der betroffenen Seite. Regelmäßige radiologische Kontrollen sind obligat.
→ B) Des Weiteren ist sowohl eine NSAR-Applikation (Indometacin 3x 25-50mg/d) zur Prophylaxe einer heterotopen/periartikulären Ossifikation, als auch eine Thromboembolie-Prophylaxe indiziert.
→ Intra-/Postoperative Komplikationen:
→ I: Schädigung des N. ischiadicus beim Kocher-Lagenbeck-Zugang.
→ II: Schädigung des N. cutaneus femoralis lateralis beim Zugang nach Letournel,
→ III: Implantatfehllage,
→ IV: Femurkopfnekrose,
→ V: Pseudarthrose,
→ VI: Tiefe Beinvenenthrombose mit der Gefahr der Entwicklung einer Lungenembolie,
→ VII: Posttraumatische Arthrose, gerade bei einer Beteiligung des hinteren Pfannenrandes, Knorpelschädigungen oder einer Gelenkstufenbildung von > 2mm.