Definition: Beim Karpaltunnelsyndrom handelt es sich um eine kompressionsbedingte Läsion des Nervus medianus im Karpaltunnelbereich (unter dem Retinaculum flexorum am Handgelenk) mit einer daraus resultierenden Nervendysfunktion (Transversalschnitt auf Höhe der Karpometakarpalgelenke). Charakteristische, klinische Symptome sind Missempfindungen und Schmerzen im Bereich des palmaren Daumens, Zeige- und Mittelfingers, sowie der radialen Hälfte des Ringfingers.

 

→ Anatomie: 

→ I: Der Nervus medianus erhält über den Fasiculus lateralis und medialis Fasern aus den Segmenten C6 bis Th1 und versorgt u.a.:

→ 1) Motorisch: Die Flexoren des Unterarms, Mm. pronator teres und quadratus, M. abductor pollicis brevis, M. opponens sowie die Mm. lumbricales I und II.

→ 2) Sensibel: Palmar die Digiti I, II, III und radiale Hälfte des IV. sowie dorsal die Endglieder der Digiti II und III.

→ II: Der Karpaltunnel (= Cannalis carpi) wird aus den Handwurzelknochen und dem darüber gespannten Lig. carpi transversum gebildet (= Retinaculum flexorum zieht vom Os hamatum und Os pisiforme, genauer Eminentia carpi ulnaris, zum Os trapezium und Os scaphoideum mit der Eminentia carpi radialis) und enthält alle Sehnen der langen Fingerbeuger (außer dem M. palmaris longus) und den N. medianus.

765 Schematische Darstellung der Anatomie des Canalis Carpi und der Guyon Loge

 

  Epidemiologie: Das Karpaltunnelsyndrom stellt das häufigste Nervenkompressionssyndrom dar und tritt bei etwa 15% der Bevölkerung. Frauen sind doppelt so häufig wie Männer betroffen, wobei der Manifestationsgipfel um das 50.-60. Lebensjahr liegt; auch kommt es nicht selten zu einem doppelseitigen Auftreten.

 

  Ätiologie: Der Nervus medianus zieht mitsamt den Beugesehnen durch den Karpaltunnel und wird dabei unter dem Retinaculum flexorum komprimiert. Häufig ist die Ursache nicht genau bekannt (90% idiopathisch). Weitere Pathomechanismen sind u.a.:

→ I: Anatomische Variation mit verengtem Karpaltunnel.

II: Mechanische Belastung und eine in Fehlstellung verheilte distale Radiusfraktur sowie Handwurzelfrakturen (bzw. allgemein handgelenksnahe Frakturen).

III: Degenerative Prozesse wie synoviale Veränderungen z.B. Tenosynovitis bei chronischer Polyarthritis, etc. aber auch im Rahmen einer Chondrokalzinose durch Einlagerung von Kalziumpyrophosphatdihydrat in die Gelenke (seltener in Sehnen und Bändern).

IV: Verrenkungen der Handwurzelknochen und Weichteilschädigungen.

→ V: Systemerkrankungen: Wie die rheumatoide Arthritis, Hyperurikämie, Endokrinopathien wie Diabetes mellitus, Hypothyreose und Akromegalie, aber auch hormonelle Veränderungen wie Schwangerschaft und Stillzeit.

→ VI: Weitere Risikofaktoren: Sind insbesondere:

→ 1) Alter > dem 50. Lebensjahr (Postmenopause),

→ 2) Rezidivierende Sehnenscheidenentzündungen,

→ 3) Rauchen und nicht zuletzt das

→ 4) Übergewicht.

 

Klinik:

→ I: Initial zumeist leichte Parästhesien oder Hypästhesien im Bereich der Fingerspitzen; Zunahme der Beschwerden unter Belastung (insbesondere in ganz speziellen Situationen wie beim Telefonieren, Radfahren etc.), sodass Gegenstände z.T nicht mehr gegriffen werden können. 

→ II: Brachialgia paraesthetica nocturna: Nächtliches Taubheitsgefühl und Parästhesien (Kribbelgefühl) im Versorgungsgebiet des N. medianus (medialen 3 Finger).

→ III: Im weiteren Krankheitsverlauf weitere Zunahme der Symptomatik mit ausgeprägten Gefühlsstörungen, Kraftlosigkeit und Schmerzen, die z.T in das Handgelenk, Unterarm und gelegentlich in das Ellenbogengelenk bzw. bis in die Schulter ausstrahlen können.

IV: Atrophie der vom N. medianus innervierten Daumenballenmuskulatur (Thenarmuskulatur.: M. opponens, M. abductor pollicis brevis, M. flexor pollicis brevis caput superficialis sowie Mm. lumbricales I-II).

V: Hoffmann-Tinel-Zeichen: Beim Beklopfen des geschädigten Nervus medianus im Bereich des volaren Handgelenkes kommt es zum elektrisierenden Gefühl bzw. Parästhesien im Versorgungsgebiet (= ersten 3 Finger).

672 Klassifikation der klinischen Symptomatik des Karpaltunnelssyndroms nach Gerl und Fuchs

 

Diagnose:

→ I: Klinische Untersuchung:

→ 1) Hoffmann-Tinel-Zeichen: (positiv) Es kommt zur Schmerzentwicklung bzw. Parästhesien bei Perkussion der N. medianus am Handgelenk.  

→ 2) Karpal-Kompressionstest: Bei neuraler Handgelenksstellung wird der N. medianus über einen Zeitraum von 30sec. komprimiert. Der Test ist positiv, wenn KTS-Symptomatik ausgelöst wird.

→ 3) Oppositionstest: (= Zirkelzeichen) Bei diesem Test wird der Patient aufgefordert mit dem Daumen die Kleinffingerkuppe zu berühren. Liegt eine Lähmung des N. medianus vor, kommt es zum Ausfall des M. opponens pollicis. Der Daumen kann nicht mehr opponiert werden und bewegt sich lediglich auf einem Kreisbogen, der eine Adduktionsbewegung in Richtung Hohlhand darstellt.

→ 4) Palpation der Thenarmuskulatur im Vergleich zur Gegenseite. Der Daumenballen ist initial weicher, im Spätstadium ist evtl. eine Atrophie der Muskulatur zu erkennen.

→ 5) Phalen-Test: Er ist positiv, wenn es nach einer einminütigen maximalen Flexion im Handgelenke aufgrund einer Kompression des N. medianus zu Parästhesien im Versorgungsgebiet kommt (Abb.: Klinische Untersuchungsverfahren beim Karpaltunnelsyndrom).

II: Elektrodiagnose: Charakteristische diagnostische Zeichen sind u.a.:

→ 1) Die Nervenleitungsgeschwindigkeit ist deutlich verlangsamt.

2) Verringerung der Amplitude des Aktionspotenzials.

→ III: Klassifikation: Des Karpaltunnelsyndroms anhand der klinischen Symptomatik und elektrophysiologischen Untersuchung: 

454 Stadieneinteilung des Karpaltunnelsyndroms

 

→ Differenzialdiagnose: Vom Karpaltunnelsyndrom müssen insbesondere nachfolgende neurologische Erkrankungen abgegrenzt werden:

→ I: Läsionen des N. medianus an anderer Stelle z.B. das Pronator-teres-Syndrom.

Läsionen des Nervus medianus

 → II: Durchblutungsstörungen insbesondere das Raynaud-Syndrom.

→ III: C7-Syndrom und nicht zuletzt

→ IV: Das Guyon-Logensyndrom.

 

Therapie:

 I: Konservative Therapie: Milde Formen des Karpaltunnelsyndroms bedürfen zumeist keiner Behandlung.

→ 1) Volare Lagerungsschiene des Unterarms, Handgelenkes und der Finger in Neutralstellung insbesondere nachts.

2) Gabe von NSAR (topisch oder systemisch) und Vitamin B6.

3) Kortison-Injektion in den Karpaltunnel.

II: Operative Therapie:

 1) Indikation: Therapieresistentes, fortgeschrittenes Karpaltunnelsyndrom, thenar (Daumenballen-)-Atrophie, dauerhafte Parästhesien.

2) Offener Längsschnitt zwischen Thenar- und Hypothenarmuskulatur Richtung Ringfinger. Spaltung des Retinaculums flexorum (Spaltung des Ligamentum carpi transversum), welches den Karpaltunnel bedeckt; anschließend wird es im erweiterten Zustand rekonstruiert. Folge ist die mechanische Entlastung des Nervs.

 3) Alternativ ist eine endoskopische Therapie möglich.

 

 Klinisch-relevant: Ursachen eines Rezidiv sind vor allem: 

→ A) Iatrogene Verletzung des Nervus medianus.

→ B) Narbenbildung mit erneuter Einengung des Karpaltunnel.

→ C) Rezidivierende Sehnenscheidenentzündungen.

 

Prognose:

→ I: Von der konservativ Therapie profitieren 40-50% der Patienten von der operativen Therapie bis zu 80%.

→ II: Inbesondere die Sensibilitätsstörung bildet sich frühzeitig wieder zurück, währenddessen die Thenaratrophie zur Regeneration einen deutlich längeren Zeitraum benötigt (evtl. sich sogar bei ausgeprägter Nervenläsion nicht mehr einstellt).