Definition: Unter einem Hirnabszess versteht man eine umschriebene zumeist bakterielle Entzündung von Hirngewebe (Gewebeeinschmelzung), die zur Bildung einer abgekapselten Eiterhöhle führt. Sie kann solitär oder multiple auftreten.

 

Erregerspektrum: Es handelt es fast ausschließlich um Bakterien, insbesondere um Staphylokokken und Streptokokken, aber auch Anaerobier z.B. Bacteroides fragilis, Aerobier wie Proteus, Haemophilus influenza, Pseudonomas, (Komplikation einer Listeriose) etc. Der Infektionsweg erfolgt fortschreitend, traumatisch oder hämatogen-metastatisch.

032 Erreger, die bei Hirnabszess vermehrt vorkommen

 

Ätiopathogenese:

→ I: Die Erreger können auf unterschiedliche Weise ins Gehirn gelangen:

→ 1) Per continuitatem: (= fortleitend) Bei Sinusitis, Mastoiditis, dentale Infektionen, Gingivitis, Gesichtsfurunkel, Tonsillitis, etc.

→ 2) Hämatogen: (hämatogen-metastatisch) Zahnextraktion (insbesondere der Weisheitszähne). BronchiektasenPneumonie, AV-Angiome der Lunge, Endokarditis, Herzklappenvitien, Osteomyelitis, etc.

→ 3) Posttraumatisch: Nach Operationen am offenen Schädel oder offenen Schädel-Hirn-Trauma; hierbei unterscheidet man nochmals zwischen:

→ A) Einem Frühabszess, der innerhalb von wenigen Tagen auftritt und

→ B) Einem Spätabszess, der sich erst nach Monaten bis Jahren manifestiert.

→ 4) Postinfektiös: Nach septischer Sinusthrombose und infektiöser (bakterieller) Meningitis.

033 Klassifikation des Hirnabszesses nach Lokalisation,

 → II: Morphologie: Initial entsteht am Ort der Entzündung eine phlegmonöse Einschmelzung mit perifokalem Hirnödem. Im weiteren Verlauf wird der Infektionsherd durch ein kapillarreiches Granulationsgewebe abgegrenzt. Innerhalb von Wochen entwickelt sich aus dieser Abszessmembran eine bindegewebige Kapsel. Eine mögliche Komplikation ist der Einbruch ins Ventrikelsystem mit konsekutiver Ausbildung eines Pyocephalus internus (= Eiteransammlung in den Ventrikeln).

→ III: Weitere prädisponierende Faktoren sind u.a. schlechte Abwehrlage bei z.B. Diabetes mellitus, Sarkoidose, konsumierende Prozesse wie z.B. Malignome, Immunsuppression durch Chemotherapeutika, Infektionen wie HIV oder Tuberkulose, etc.

 

Klinisch-relevant: Der Hirnabszess ist zumeist im Großhirn, seltener im Kleinhirn und ganz selten im Hirnstamm lokalisiert. In 10% der Fälle ist der Fokus nicht eruierbar.

 

Klinik: Die klinische Symptomatik ist sehr variabel und kann von mild über protrahiert bis fulminant verlaufen.

→ I: Allgemeinsymptome mit Kopfschmerzen, Leistungsminderung, Übelkeit; bei Kindern häufig Appetitlosigkeit und Reizbarkeit.

→ II: Die charakteristische Symptom-Trias besteht aus starken Kopfschmerzen, Fieber und fokal neurologischen Herdsymptomen:

→ 1) Hirnnervenausfälle: Wie der HN III (= N. occulommotorius), VI (= N. abducens), VII (= N. facialis) und der kaudalen Hirnnerven (IX, X, XI, XII).

→ 2) Spinale Wurzelsymptome mit Ausfall der Muskeleigenreflexe.

→ 3) Seltene Herdsymptome wie epileptische Anfälle, Hemiparesen oder organische Wesensveränderungen.

III: Weitere Symptome: Sind u.a. Meningismus, Verwirrtheitszustände, Bewusstseinseintrübung und Hirndruckzeichen (wie z.B. Stauungspapille).

IV: Krankheitsverlauf: Die Erkrankung kann akut oder chronisch (seltenere Verlaufsform mit Fehlen von Fieber und Entzündungszeichen) verlaufen.

 

→ Komplikationen: Wichtige und z.T. schwerwiegende Komplikationen des Hirnabszess sind u.a.:

→ I: Septische Ausbreitung durch Einbruch ins Ventrikelsystem mit konsekutiver Entwicklung eines Pyocephalus internus bis hin zur phlegmonöse Enzephalitis.

→ II: Septische Thrombophlebitis der intrakraniellen Venen.

→ III: Spätabszess noch nach Jahren möglich (insbesondere z.B. bei Geschosssplittern).

 

  Diagnose:

→ I: Anamnese: Exploration vorangegangener Infektionen (Sinusitis, Mastoiditis, etc.) oder Trauma.

→ II: Untersuchung: Eruierung von Hirnnervenausfällen, Hemiparese, Stauungspupille und evtl. Meningismus.

→ III: Labor:

→ 1) Erhöhte Entzündungsparameter insbesondere Leukozytose, CRP, aber evtl. auch der Procalcitonin-Wert.

2) Liquorpunktion: Der Liquor kann entzündlich verändert sein mit evtl. mit granulozytärer Pleozytose. Einen trüben Liquor mit erhöhtem Gesamteiweiß und Laktat sowie erniedtigtem Zucker ist bei Einbruch des Abszesses in den Liquorraum nachweisbar (wird zumeist nur durchgeführt bei unklarem bildgebendem Befund).

→ IV: Bildgebung: Ist in der Diagnostik des Hirnabszesses wegweisend.

1) CCT: Unscharfer hypodenser Herdbefund; nach Kontrastmittelgabe typisches ringförmiges Enhancement (= Anreicherung von Kontrastmittel in der Abszesskapsel).

→ 2) MRT: Gute Detektion mit diffusionsgewichtetem MRT.

→ 3) Evtl. kann eine Granulozyten-Szintigraphie hilfreich sein (stellt > 80% der Hirnabszess zuverlässig dar).

→ V: EEG: Es zeigen sich u.a. allgemeine EEG-Veränderungen im Bereich des Herdes Delta-Wellen und häufiger auch epileptische Potenziale.

 

Klinisch-relevant: Ist die Diagnose gesichert sind Blutkulturen und Materialgewinnung aus dem Abszess durch Punktion oder Drainage zur Erregerdiagnostik erforderlich. Es kann eine Stadieneinteilung des Hirnabszess v.a. anhand der Histologie und Bildgebung erfolgen: 

034 Stadieneinteilung des Hirnabszesses

 

Differenzialdiagnose: Vom Hirnabszess müssen insbesondere nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden:

→ I: Eitrige Meningitis: (= bakterielle Meningitis, aber auch tuberkulöse -,) Beim Hirnabszess ist mit einem so ausgeprägtem Meningismus zu rechnen. Auch zeigt sich eine so massive Pleozytose (> 10000 Zellen/µl) nur bei Einbruch des Abszesses in das Ventrikelsystem.

II: Eine ringförmige Kontrastmittelanhebung im cCT findet man auch bei:

→ 1) Störungen der Blut-Hirn-Schranke,

→ 2) Gliome und Metastasen,

→ 3) Ischämische Infarkte und

→ 4) In der Resorptionsphase befindliche Blutungen.

→ III: Septische Sinusthrombose: Sie kann ebenfalls nach Sinusitis und Ostitis mit Fieber und fokalen Herdsymptomen auftreten und lässt sich sich insbesondere durch MRT und MRA vom Hirnabszess abgrenzen.

→ IV: Weitere Differenzialdiagnosen sind u.a. tuberkulöse Meningitis, Virenenzephalitis, Osteomyelitis des Schädelknochens etc.

 

Therapie:

→ I: Konservative Therapie: Im Stadium der Zerebritis (= fokale Entzündung ohne Abkapselung) wird eine systemische Breitbandantibiotikatherapie durchgeführt.

→ 2) Auch die Sanierung der primären Infektionsquelle ist für den Therapieerfolg von besonderer Bedeutung.

→ 3) Besteht eine abgekapselter Abszess erfolgt eine stereotaktische Punktion und Drainage; Komplikationen hierbei sind u.a. die Induktion einer Ventrikulitis oder einer eitrigen Meningitis.

→ 4) Gegebenenfalls ist eine Hirndruck-Therapie notwendig.

II: Operative Therapie: 

→ 1) Eine operative Totalexstirpation mithilfe einer Kraniotomie ist bei oberflächennahen Abszessen mit Fremdkörpereinschluss (z.B. Knochensplitter nach offenem SHT) indiziert.

2) Weitere Indikationen: Sind gekammerte Abszesse, Fistelbildung, revisionsbedürftige Frakturen, Abszesse mit harter Konsistenz bei Pilz-, Mykobakterien-, Actinomyces-Infektion, eine massive intrakranielle Raumforderung, etc.

→ 3) Prä- und postoperativ ist eine systemische hochdosierte Antibiotika-Behandlung obligat. Besteht kein Erregernachweis wird eine antibiotische Kombinationstherapie mit Metronidazol (Anaerobier), Cephalosporinen der 3. Generation und einem Staphylokokken-Antibiotikum (z.B. Rifampicin, Fosfomycin) empfohlen.

 

Prognose: Das Letalitätsrisiko bei einem solitärem Hirnabszess liegt bei 5-10%, bei multiplen ist es deutlich höher. Nicht selten bleiben Residuen wie epileptische Anfälle bestehen.