Definition: Bei der Migräne handelt es sich um intermittierende Kopfschmerzattacken mit neurologischen und vegetativen Begleitsymptomen (zur Diagnosestellung der Migräne müssen die Kriterien der international Headache Society erfüllt sein).

 

Epidemiologie:

→ I: Die Migräne zählt zu den primären Kopfschmerz-Erkrankungen und stellt nach dem Spannungskopfschmerzen die zweithäufigste Kopfschmerzart dar.

→ II: Etwa 6-8% der Männer und 12-15% der Frauen leiden an Migräne, wobei der Manifestationsgipfel im frühen Erwachsenenalter (15-25 Jahre) liegt; eine Manifestation nach dem 40. Lebensjahr ist selten.

→ III: Die Prävalenz bei Kindern vor der Pubertät liegt bei 4-5%; hierbei sind Jungen wie Mädchen gleich häufig betroffen.

 

Ätiopathogenese:

→ I: Die genaue Pathogenese der Migräne ist bis heute nicht genau geklärt, vielmehr wird eine genetische Disposition sowie eine Aktivierung des trigeminovaskulären Systems mit konsekutiver neurogener (steriler) Inflammation vermutet. Eine Ausnahme besteht bei der seltenen autosomal-dominant vererbten familiären hemiplegischen Migräne.

→ II: Auslösende Faktoren für den einzelnen Migräneanfall sind u.a.:

→ 1) Lärm, Stress aber auch Stressentlastung (Wochenendmigräne).

→ 2) Änderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus,

→ 3) Medikamente wie z.B. Kalziumantagonisten, Nitrate, Sildafenil, Dipyrimadol, etc.

→ 4) Bestimmte Nahrungsmittel wie Nüsse, Käse, Schokolade, Rotwein, etc.

→ 5) Weitere Triggermechanismen: Sind insbesondere hormonelle Veränderungen wie Menstruation, orale Kontrazeptiva, Sistieren der Migräne, während der Schwangerschaft etc.

 

Klinisch-relevant: Migräne-Patienten fallen nicht selten durch eine Perfektionismus auf, sodass die Kehrseite ihrer Ordentlichkeit die Störanfälligkeit gewohnter Alltagsabläufe darstellt, d.h. ein unterbrochener Arbeitsrhythmus kann Attacken auslösen (z.B. Wochenend-Migräne).

 

III: Mittels PET-Untersuchung können Veränderungen der Neurotransmission sowie Attackengenerierung im Hirnstamm nachgewiesen werden und es lässt sich zudem der biphasische Verlauf der Migräneaura skizzieren:

→ 1) So kann sich während der Aura ein Augenflimmern mit nachfolgendem Skotom (= Cortical spreading depression) manifestieren.

→ 2) Neurophysiologisch kommt es diesbezüglich zu einer kurzen neuronalen und glialen Depolarisationswelle, die sich von der visuellen Kortex ausbreitet und der eine Supprimierung der kortikalen Aktivität folgt. Die Depolarisation korreliert mit dem Reizphänomen „Flimmern“, die Supprimierung mit dem Ausfall des Gesichtsfeldes (= Skotom).

 

 Charakteristischer Phasenverlauf der Migräne

Klinik: Leitsymptom der Migräne ist der Kopfschmerz, wobei etwa 80% der Patienten eine einfache Migräne aufweisen.

→ I: Migräne ohne Aura: Stellt die klassische Migräne dar mit sich allmählich aufbauenden, pulsierenden, bohrenden, (quälenden Charakter) einseitig frontotemporal oder retroorbital lokalisierten Kopfschmerzen. Charakteristischerweise halten sie einige Stunden, nicht selten den ganzen Tag mitunter bis zu 3 Tagen an. Typische Begleitsymptome der einfachen Migräne sind v.a. Übelkeit, Erbrechen, Photo- sowie Phonophobie. Weitere Auffälligkeiten sind u.a.:

→ 1) Beeinträchtigung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit.

2) Leichte physische Aktivitäten verstärken die Schmerzintensität deutlich.

→ 3) Zumeist handelt es sich um eine Hemikranie, die wenn auch eine Seite bevorzugt ist bei der nächsten Migräneattacke die Seite wechseln kann.

→ II: Migräne mit Aura: Bei dieser Form weisen die Patienten vor der Migräne-Attacke zusätzliche fokal neurologische Symptome wie Schwindel, Seh- und Sprachstörungen sowie Sensibilitätsstörungen und nicht zuletzt Lähmungen (Halbseitenlähmung) auf. Die Symptome der Aura entwickeln sich innerhalb von 5-20 Minuten und bilden sich nach 60 Minuten wieder zurück. Es gibt auch Patienten die Stunden bis Tage vor der Migräne-Attacke über Verhaltensveränderungen berichten. Das Prodromi (dienzephal und limbisch vermittelt) umfasst Beschwerden wie Stimmungsschwankungen, Hyper- und Hypoaktivität, Gähnen, Polyurie, Heißhunger auf bestimmte Lebensmittel, etc.

016 Wichtige und unterschiedliche Migräneauren

 

Klinisch-relevant: Manchmal kann die Aura einziges Symptom einer Migräne-Attacke sein, sodass man von einer typischen Aura ohne Kopfschmerzen spricht (= „migraine sans migraine“).

 

III: Weitere Migräneformen: Hierzu zählen u.a.:

→ 1) Familiär hemiplegische Migräne: Diese Form der Migräne weist eine genetische Disposition auf; Betroffene haben bzw. hatten mindestens einen Verwandten 1. bzw. 2. Grades, der die gleiche Erkrankung aufweist. Charakteristisch ist der Nachweis von verschiedenen Subtypen:

017 Subtypen der familiär hemiplegischen Migräne

Im Vordergrund der klinischen Symptomatik stehen rezidivierende Migräneattacken mit einer vorübergehenden motorischen sowie sensiblen Halbseitensymptomatik, die innerhalb einer Stunde vollständig remittiert. Es existiert zudem mindestens ein weiteres Aurasymptom wie u.a. visuelle oder sensible Effekte, aber auch dysphasische Sprachstörungen, etc.

→ 2) Sporadische hemiplegische Migräne: Weist die gleichen klinischen Kriterien wie die familiäre Form auf, jedoch ohne verwandtschaftlichen Nachweis. Zwingend bei dieser Form ist der diagnostische Ausschluss weiterer symptomatischer Ursachen.

→ 3) Visual Snow: Hierbei handelt es sich um persistierende optische Phänomene, die das gesamte Gesichtsfeld ausfüllen und nicht selten weitere visuelle Störungen aufweisen.

 

Komplikationen: Auch bei der Migräne existieren auch mögliche Komplikationen; hierzu zählen u.a.:

I: Chronische Migräne: Die Kopfschmerz-Attacken sind an mehr als 15 Tagen pro Monat über mindestens 3 Monate; davon erfüllen mindestens 8 Tage pro Monat die Kriterien einer Migräne. Risikofaktoren hierfür sind weibliches Geschlecht, hohe Attackenfrequenz, Schmerzmitteleinnahme und Übergewicht.

→ II: Status migraenosus: Für den Pattienten typische Migräne-Attacke, die länger als 72 Stunden persistiert und eine starke beeinträchtigende Intensität aufweist; steht häufig im Zusammenhang Medikamentenübergebrauch.

→ III: Migränöser Infarkt: Hirninfarkt im Rahmen von über 60 min. persistierenden Aurasymptomen und dem bildgebenden Nachweis eines ischämischen Infarktes in einem relevanten Hirnareal (andere Hirninfarkt-Ursachen müssen ausgeschlossen werden).

 

Diagnose:

→ I: Die Diagnose der Migräne wird anhand der Anamnese gestellt. Neben der Charakteristika der Schmerzattacken und der Symptomkonstellation sind der Verlauf, das Manifestationsalter und die Diagnosekriterien des IHS von Bedeutung.

015 Diagnosekriterien der Migräne mit ohne Aura nach der International Headache Society.

→ II: Eine kranielle MRT (oder cCT) ist immer indiziert:

→ 1) Erstmanifestation der Migräne nach dem 40. Lebensjahr.

2) Gleich zu Beginn Manifestation von neurologischen Symptomen,

→ 3) Schmerzattacken immer nur eine Seite betreffen.

→ 4) Veränderungen oder atypischer Schmerzcharakter.

→ III: EEG: Indiziert insbesondere bei Verdacht auf assoziierte epileptische Symptomatik. Es zeigen sich häufig unspezifische paroxysmale und oder generalisierte Dysrhythmien (meist langsame Wellen).

→ IV: Zudem existiert z.B. der Kieler Kopfschmerzfragebogen zur Unterscheidung zwischen Migräne und Spannungskopfschmerzen.

 

Differenzialdiagnose: Von der Migräne müssen insbesondere nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden; hierzu zählen:

→ I: Andere Kopfschmerzsyndrome wie Spannungskopfschmerz oder Clusterkopfschmerz, etc.

020 Differenzialdiagnosen der primären Kopfschmerzerkrankungen

→ II: Bei Persistenz fokaler Symptome oder ausschließlich einseitiger Hemikranie müssen insbesondere arteriovenöse Malformation, Karotisdissektion oder Arteriitis temporalis abgegrenzt werden.

→ III: Symptomatische Kopfschmerzen: Bei u.a.:

→ 1) Subarachnoidalblutung mit fehlendem Prodromi, heftigen Kopfschmerzen. Bewusstseinseintrübung und nicht zuletzt Meningismus.

→ 2) Sinusvenenthrombose mit allmählich zunehmenden neurologischen Defiziten und Bewusstseinslage; der Kopfschmerzcharakter ist zumeist dumpf-drückend.

→ 3) TIA, ischämischer Insult, aber auch Karotis- oder Vertebralisdissektion.

→ 4) CADASIL-Syndrom (= vaskuläre Enzephalopathie ohne arterielle Hypertonie bei familiärer Belastung).

 

Therapie: Für die Behandlung der Migräne gelten einige Grundprinzipien:

→ I: Allgemeinmaßnahmen: Hierzu zählen:

→ 1) Psychoedukation mit Aufklärung des Patienten über die Gutartigkeit der Erkrankung, Therapiezielen und mögliche positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs durch Veränderungen des Lebensstils.

→ 2) Präventivmaßnahmen: Erkennen und Vermeiden individuelle Triggermechanismen, rigide Führung eines Anfallskalenders, regelmäßige Schlafen, Essen und Trinken, Arbeitspausen und Phasen der Entspannung, Ausdauersport, vorsichtiger Umgang mit Schmerzmitteln.

→ 3) Weitere therapeutische Interventionen sind Reizabschirmung, körperliche Entspannung, lokale Eisbehandlung, etc., denn insbesondere Rückzug und Schlaf sind sehr wirksame Maßnahmen in der Behandlung der Migräne.

→ II: Medikamentöse Therapie: Beruht vor allem auf 2 Säulen der Akuttherapie der Migräne-Attacke sowie die Reduzierung von Frequenz, Intensität und Dauer der Migräne-Attacken (Migräne-Prophylaxe).

→ 1) Akuttherapie: Initial Applikation eines Antiemetikums wie Metoclopramid 20mg p.o. oder rektal bzw. Domperidon 30mg p.o. (verbessert Resorption und Wirkung des Analgetikums) zur Linderung der vegetativen Symptome wie Übelkeit und Erbrechen. Gegen die Schmerzattacken wird mit einer Latenz von 15-20min ein Analgetikum in ausreichender Dosierung appliziert. Bei der mittelschweren bis schweren Migräneattacke wird ein selektiv im Gehirn wirkender Serotoninagonist (= Triptane) empfohlen. Triptane wirken nicht während der Aura und sollten somit zu Beginn der Kopfschmerzattacke appliziert werden. Wirkungsmechanismus hierbei ist die Blockade der neurogenen Entzündung sowie der Vasokonstriktion. Besteht ein Status migraenosus ist die Substitution von Glukokortikoiden indiziert.

019 Wichtige Serotoninagonisten sowie die Analgetikatherapie der Migräne

→ 2) Therapiekontrolle: Die Therapie bedarf einer regelmäßigen Kontrolle, um einen Übergebrauch von Analgetika, Ergotaminen oder Triptanen zu vermeiden. Insbesondere Triptane führen zu einem Dauerkopfschmerz, sodass sie nur an < 10 Tagen pro Monat und an < 3 Tagen hintereinander verabreicht werden dürfen.

 

Klinisch-relevant: Die früher für die Migräne eingesetzten Ergotamine sind bis auf das Ergo-Kranit alle vom Markt genommen worden.

 

III: Migräneprophylaxe: Ziel der Migräneprophylaxe ist eine 50%ige Reduktion der Attackenfrequenz, Intensität und Dauer. Es handelt sich typischerweise um eine multimodale Therapie mit u.a. edukativen, psychotherapeutischen, physiotherapeutischen Bestandteilen, Entspannungsverfahren, etc.

1) Allgemeinmaßnahmen: Beinhaltet u.a. die Regulierung von Tagesablauf, Schlaf-Wach-Rhythmus, Nahrungszufuhr, Vermeidung von Auslösefaktoren sowie regelmäßiger Ausdauersport, etc.

2) Medikamentöse Prophylaxe: Über eine medikametöse Prophylaxe ist mit dem Patienten zu erwägen, wenn u.a. > 3 Attacken/Monat auftreten, die Attacken länger als 72 Stunden anhalten, prolongierte Migräneauren, erlittener migranöser Hirninfarkt, Medikamentenübereinnahme an mehr als 10 Tagen pro Monat bestanden oder bestehen und sich nicht zuletzt ein hoher Leidensdruck bzw. eine Einschränkung der Lebensqualität manifestiert. Die Medikamentenwahl orientiert sich am Nebenwirkungsspektrum. Medikamente der 1. Wahl sind: 

013 Medikamentöse Therapie der Migräneprophylaxe

Die Medikamente sollten langsam eindosiert und mindestens über 3 Monate substituiert werden. Die Nebenwirkungen in der Dauertherapie müssen zur Compliance mit dem Patienten abgewogen werden; eine Therapiekontrolle (u.a. mittels Kopfschmerzkalender) ist obligat. Medikamente der 2. Wahl sind u.a.:

014 Medikamente der 2. Wahl bei der Migräneprophylaxe

→ 3) Bei häufiger Attackenfrequenz und chronischer Migräne haben sich verhaltenstherapeutische Verfahren ebenso wirksam wie die Pharmakotherapie gezeigt. Zudem wirken sich Biofeedback und Muskelrelaxation nach Jacobson positiv auf die Migräne aus.

 

Prognose: Eine Heilung mit heutigen Therapieinterventionen ist nicht möglich, jedoch bei adäquater Behandlung und Compliance gut einstellbar. Zumeist nimmt die Attackenfrequenz mit dem Alter ab.