Definition:

→ I: Bei den somatoformen autonomen Funktionsstörungen handelt es sich um klinische Symptome und Befürchtungen des Patienten, die sich weitgehend auf vegetativ-innervierte Organe beziehen, ohne jedoch den Nachweis eines organischen Korrelats erbringen zu können.

→ II: Typische Symptomkomplexe betreffen insbesondere das:

→ 1) Kardiovaskuläre System (Herzneurose),

2) Den oberen (Reizmagen) und unteren (Colon irritabile) Gastrointestinal-Trakt, aber auch

→ 3) Das respiratorische (psychogene Hyperventilation) und

→ 4) Urogenital-System (Dysurie).

 

Epidemiologie:

→ I: Die somatoforme autonome Funktionsstörung stellt eine sehr häufige Form der somatoformen Störungen dar.

→ II: Man geht von einer Prävalenz von 0,5-1% in der Allgemeinbevölkerung aus, wobei Männer genauso häufig wie Frauen betroffen sind.

→ III: Sie kann schon im Jugendalter beginnen, jedoch besteht ein Manifestationsgipfel um die 3. Lebensdekade.

 

Ätiopathogenese: Der genaue Pathomechanismus der somatoformen autonomen Funktionsstörung ist bis heute noch nicht genau geklärt, vielmehr geht man von einem multifaktoriellen Geschehen aus; hierzu zählen u.a. :

→ I: Psychodynamische Faktoren:

→ 1) Sie sind Ausdruck unbewusster Konflikte (= Ambivalenzkonflikte) zwischen Abhängigkeitsgefühl und Trennungsängsten (z.B. von der Mutter).

→ 2) Des Weiteren wird die somatoforme autonome Funktionsstörung nach psychoanalytischer Vorstellung als eine psychosomatische Symptombildung angesehen.

II: Psychosoziale Faktoren: Hierzu zählen insbesondere psychosoziale Überforderungen und negative Stressoren aber auch der Konsum von Stimulanzien, Kaffee, Nikotin etc.

III: Weitere Faktoren: Sind u.a.:

→ 1) Lernprozesse vor allem auch das Modelllernen,

→ 2) Allgemein erhöhte psychovegetative Labilität.

 

Klinisch-relevant: Wichtige Triggermechanismen für die klinische Manifestation sind schließlich „Life events“ z.B. durch Verlust wichtiger Bezugspersonen, massive Veränderungen der Lebenssituation (Beruf, Wohnort) etc.

 

Klinik: Charakteristikum dieser Störung ist, dass klinische Symptome explorierbar sind, die einem spezifischen vegetativ-innervierten Orangsystem zuzuordnen, aber auf keine organische Ursache zurückzuführen sind.

→ I: Herzneurose: (= Da-Costa-Syndrom) Mit attackenartigen Schmerzen und/oder Stechen in der Herzregion und gleichzeitiger Angst an einen Herzinfarkt oder Herzstillstand zu sterben. Begleitende Symptome sind u.a. Tachykardie, arterielle Hypertonie, Tachypnoe, Dyspnoe, evtl. Ohnmachtsgefühl etc.

→ II: Reizmagensyndrom: Es zeigen sich unspezifische epigastrische Beschwerden wie Druckgefühl, Aerophagie, Dyspepsie, psychogener Singultus, Schmerzen, Übelkeit etc.

→ III: Reizdarmsyndrom: Krampfartige Bauchschmerzen, Stuhlunregelmäßigkeiten mit Wechsel zwischen Diarrhoe und Obstipation, Schleimabgang, Meteorismus, Flatulenz etc.

→ IV: Reizblase: Mit Dysurie, Harnträufeln, psychogener Pollakisurie, psychogenes Harnverhalten, aber auch Harninkontinenz sowie diffuse suprapubische Schmerzen etc.

→ V: Psychogene Hyperventilation: Zumeist plötzlich auftretende Attacken mit zu tiefer, schneller Atmung (paCO2 erniedrigt = respiratorische Alkalose), funktionelle Hypokalzämie und tetanischer Symptomatik z.B. Parästhesien, Pfötchenstellung, Krämpfe. 

→ VI: Des Weiteren bestehen psychovegetative Symptome wie:

→ 1) Schwitzen, Errötung und Tremor sowie

→ 2) Herzrasen und Palpitation.

 

Komorbitäten: Die somatoforme autonome Funktionsstörung ist häufig mit weiteren psychischen Störungen assoziiert; hierzu zählen insbesondere:

I: Angststörungen und Panikattacken,

II: Depressive Episoden sowie

III: Suchterkrankungen vor allem die Alkohol- und Tranquilizerabhängigkeit.

 

Diagnose:

→ I: Anamnese/klinische Untersuchung:

→ 1) Umfassende Anamneseerhebung mit Exploration von Krankheitsbeginn, möglichen Auslösefaktoren, aber auch der familiären Situation etc.

2) Klinische Untersuchung: Internistische Untersuchung mit Erfassung von Blutdruck, Puls, EKG, Langzeit-RR, Echokardiographie, evtl. Gastroösophagoduodenoskopie, Koloskopie, Routinelabor mit Schilddrüsenhormone TSH, T3/T4 etc.

 

Klinisch-relevant: Bei Verdacht auf das Vorliegen einer somatoformen Störung sollte schon bei der Exploration Techniken wie halbstrukturierte Anamneseerhebung oder biographische Interviews angewandt werden. Wichtig hierbei ist, dass die Gespräche gleichzeitig therapeutische und motivationsfördernde Eigenschaften aufweisen.

592 Diagnosekriterien der somatoformen autonomen Funktionsstörung nach ICD 10

 

 

Differenzialdiagnose: Von der somatoformen autonomen Funktionsstörungen müssen insbesondere nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden:

I: Agitierte-Depression: (Mit hypochronischen Symptomen) Hierbei besteht jedoch keine spezifische herzphobische Symptomatik.

→ II: Zönästhetische Form der Schizophrenie.

→ III: Somatisierungsstörungen: Es bestehen somatische Beschwerden in verschiedenen Bereichen und sind nicht konstant auf ein Organsystem bezogen.

 

Therapie: Im Mittelpunkt der Behandlung der somatoformen autonomen Funktionsstörungen steht die psychotherapeutische Behandlung. Voraussetzung ist eine stabile Patienten-Therapeuten-Beziehung u.a. durch Signalisierung von Verständnis und Akzeptanz und Steigerung der Behandlungsmotivation erreicht werden kann.

→ I: Psychotherapie: Sie beinhaltet vor allem:

→ 1) Psychoedukation mit umfangreicher Aufklärung über die Erkranung.

2) Kognitive Verhaltenstherapie mit Erarbeiten von Zusammenhängen zwischen psychischen und körperlichen Symptomen anhand von Symptomtagebüchern sowie die Identifikation und Modifikation dysfunktionaler Kognitionen im Sinne einer kognitiven Umstrukturierung (A.T. Beck).

→ 3) Konfliktkonzentrierte Psychotherapie, aber auch

→ 4) Supportive Entspannungsübungen (z.B. Biofeedback).

→ II: Medikamentöse Therapie:

→ 1) In der Akutsituation können Benzodiazepine (z.B. Lorazepam 1-3mg oder Alprazolam 1mg) oder aber auch ß-Rezeptor-Blocker (z.B. Proranolol) appliziert werden.

→ 2) Langzeittherapie: In der Langzeittherapie der somatoformen autonomen Funktionsstörungen können SSRI wie Fluoxetin (20-40mg/d), Paroxetin (20-40mg/d) oder alternativ aber auch trizyklische Antidepressiva wie Imipramin (50-100mg/d) versucht werden.

222 Grundregeln zum Umgang mit somatoformen Patienten

 

Verlauf/Prognose:

→ I: Die somatoforme autonome Funktionsstörung neigt überwiegend zur Chronifizierung, insbesondere wenn eine diagnostische Unsicherheit mit sogenanntem „Doctor-Shopping“ besteht. Eine schwerwiegende Folge ist die psychosoziale Isolation.

→ II: Es existiert aber auch eine reaktive Form der somatoformen autonomen Funktionsstörung, die sich aufgrund von akuten Belastungen ausbildet; sie ist zumeist kurz andauernd und weist eine Spontanremission auf.

→ III: Negative Prognosefaktoren sind vor allem eine nicht selten auftretende Depression sowie die häufige Entwicklung einer Alkohol- und/oder Medikamentenabhängigkeit.