Definition: Beim zentralen anticholinergen Syndrom handelt es sich um eine pathologische Störung des vegetativen Nervensystems, hervorgerufen durch eine Überdosierung/Intoxikation an anticholinerg wirkenden Substanzen, die zu einer Blockade der zentralen, muskarinergen Rezeptoren führt (Ausschaltung des Parasympathikus mit seiner dämpfenden Wirkung).

 

Ätiologie: Meist stellt es eine unerwünschte Arzneimittelnebenwirkung aufgrund der Einnahme anticholinerg-wirkender Substanzen dar.

→ I: Trizyklische Antidepressiva wie Doxepin, Imipramin und Trimipramin,

→ II: Antipsychotika wie Levomepromazin, aber auch bei atypischen Neuroleptika wie Quetiapin und Olanzapin,

→ III: H1Antihistaminika (Ranitidin),

→ IV: Spasmolytika (Butylscopolamin),

→ V: Klasse-I-Antiarrhythmika oder

→ VI: Parkinsontherapeutika (Biperiden), aber auch durch

→ VII: Pflanzenalkaloide (Atropin und Scopolamin in der Tollkirsche, Engelstrompete oder Stechapfel).

→ VIII: Prädisponierende Faktoren: Sind vor allem:

→ 1) Höheres Lebensalter,  

→ 2) Hirnorganische Vorerkrankungen wie z.B. Alzheimer Demenz und evtl.

→ 3) Massive Exsikkose.

 

 Klinisch-relevant: Bei Verdacht auf ein anticholinerges Syndrom ist immer an eine Überdosierung bzw. Intoxikation (im Sinne der Suizidalität) bzw. eine inadäquate Kombinationstherapie anticholinerg-wirkender Substanzen wie Clozapin und trizyklisches Antidepressivum zu denken.

 

 Pathogenese: Hierbei kommt es direkt zum kompetitiven Antagonismus an muskarinergen Acetylcholin- Rezeptoren im ZNS und der Peripherie. Folge ist eine Reduktion der Acetylcholin-Konzentration im Verhältnis zu den anderen Neurotransmittern wie Noradrenalin, Serotonin und Dopamin.   

 

Klinik: Das anticholinerge Syndrom ist durch das Vorhandensein von zentralen und peripheren Symptome charakterisiert (siehe auch zentrales serotonerges Syndrom). Hierbei können sich 2 unterschiedliche, zentralnervöse Verlaufsformen manifestieren:

→ I: Zentrale Symptome: Sie können nochmals in 2 Subtypen unterteilt werden.

1) Agitierte (delirante) Verlaufsform: Charakteristisch hierbei ist eine delirante Symptomatik mit Verwirrtheitszuständen, Desorientierung, Unruhe, Halluzinationen (vor allem optische) und Krampfanfällen.

2) Sedative (somnolente) Verlaufsform: Gekennzeichnet durch verzögertes Erwachen, Somnolenz bis hin zum Koma. Bei beiden Verlaufsformen können noch zusätzlich periphere Symptome auftreten.

 II: Periphere Symptome: Trockene, gerötete (infolge einer Vasodilatation) Haut und Schleimhäute, verminderte Schweiß- und Speichelproduktion, Hyperthermie, Mydriasis, Herzrhythmusstörungen mit Tachykardie, supraventrikuläre Extrasystolen etc., Magen-Darm-Atonie mit Obstipation und Harnverhalten.

 

 Komplikationen: Selten entwickeln sich lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen, ein kardiogener Schock, Krampfanfälle und/oder Rhabdomyolyse.

 

→ Diagnose:

→ I: Anamnese/Klinische Untersuchung: Spezielle Medikamenten-Anamnese insbesondere von anticholinerg wirkenden Medikamenten bzw. die Kombinationtherapie mit mehreren anticholinerg wirkenden Substanzen. Den klinisch-neuropsychiatrischen Leitbefund stellt zumeist das Delir dar.

→ II: Labor: Wie CRP, BZ, Elektrolyte, arterielle BGA (Abb.: Normwerte der BGA), Leberenzyme, etc. sind zumeist unauffällig. Für das Auftreten möglicher Komplikationen spricht der Anstieg von CK und der Retentionswerte.

→ III: Weitere Untersuchungen: Sind u.a.:

→ 1) EEG: Allgemeinveränderungen sind hierbei möglich.

→ 2) Liquoruntersuchung: Normal.  

 

→ Differennziladiagnose: Hiervon abzugrenzen sind u.a. nachfolgende Erkrankungen wie:

→ I: Zentrales Serotoninsyndrom,

→ II: Alkoholentzugsdelir,

→ III: Akute schizophrene Psychose (Schizophrenie),

→ IV: Sympathomimetisches Syndrom,

→ V: Schwere metabolische Störungen z.B. Ketoazidose. 

578 Differenzialdiagnose anticholinerges Syndrom   serotonerges Syndrom

 

Therapie:

→ I: Allgemeinmaßnahmen:

→ 1) Sofortiges Absetzten der anticholinerg-wirkenden Substanzen.

2) Monitoring der Vitalfunktionen (Puls, RR, Temperatur, Atmung), Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution.

→ II: Medikamentöse Therapie: 

→ 1) Verhinderung der Giftaufnahme durch Gabe von Aktivkohle oder beschleunigte Ausscheidung der Substanz durch forcierte Diurese.

→ 2) Bei Selbst- bzw. Fremdgefährdung muss der Patienten fixieren, bei starken Erregungszuständen erfolgt die Gabe eines Benzodiazepins und/oder Antipsychotikums.

3) Bei Persistenz Applikation des Antidots, Physostigmin (Cave: Vasovagale Symptome wie Bradykardie)

→ 4) Dosierung: Initial 2mg i.v., anschließend alle 20min 2-4mg nach Klinik (Gefahr von vasovagalen Zwischenfälle).

 

  Prognose: Günstig bei frühzeitiger Diagnosestellung und adäquater Therapie.