Diagnose: Die Diagnose der dissoziativen Störung kann gestellt werden, wenn neben dem charakteristischen Symptomkomplex folgende Kriterien bestehen:

→ I: Alle organischen Erkrankungen (z.B. EEG bei dissoziativem Krampfanfall), die die Symptomatik erklären könnten, wurden ausgeschlossen. Gerade bei Verdacht auf dissoziativen Krampfanfall sollte die Bestimmung der Serum-Kreatin-Kinase (bzw. des Prolaktins), das häufig bei organischer Epilepsie erhöht ist, erfolgen. Bei angegebenen Sensibilitätsstörungen und Paresen ist die elektrophysiologische Diagnostik obligat.

II: Ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den dissoziativen Symptomen und einem belastenden spannungsgeladenen Ereignis besteht.

 

  Klinisch-relevant: Folgende Aspekte sind bei der Anamneseerhebung zu beachten:

→ A) Detaillierte Exploration bezüglich der Qualität, Häufigkeit, Dauer und nicht zuletzt der Lokalisation der Symptome.

B) Nicht selten treten dissoziative Phänomene im Zusammenhang mit weiteren psychischen Erkrankungen wie der posttraumatische Belastungsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, depressiven Episoden, Drogenmissbrauch bzw. allgemein Abhängigkeit, etc. auf. Tritt wiederum eine dissoziative Störung ausschließlich während einer anderen psychischen Störung auf, so wird nur die letztere diagnostiziert und die Phänomene werden als Symptome der Primärerkrankung klassifiziert.

C) Die belastenden Ereignisse, die im zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Symptomatik stehen, werden vom Patienten nicht wahrgenommen bzw. der Patient kann sich nicht mehr an sie erinnern. Hierbei ist die Fremdanamnese obligat.

D) Die häufige Beobachtung des Arztes, dass die schwere Symptomatik bei dissoziativen Störungen als gleichgültig angenommen werden (= belle de difference), zeigt sich gerade auch bei anderen zentralnervösen Störungen wie z.B. der Encephalomyelitis disseminata.

E) Ein großes Problem stellt auch die Patientenbeziehung dar. Nicht selten haben die Betroffenen über Jahre diagnostische und therapeutische Maßnahmen über sich ergehen lassen und entwickelten somit ein Gefühl dafür, ob der zuständige Arzt sie ernst nimmt oder nicht. Dies wiederum kann zu einem frühzeitigen Abbruch der Therapie führen.

 

  Diagnostische Testverfahren:

→ I: FDS: (= Fragebogen zu dissoziativen Symptomen)

→ 1) Hierbei handelt es sich um ein Screeningverfahren zur Erfassung dissoziativer Phänomene, einschließlich der Depersonalisation und Derealisation.

→ 2) Es stellt ein Standardverfahren zur Diagnosestellung dissoziativer Störungen und dissoziativer Symptome bei Angststörungen, schizophrenen Störungen oder der PTBS dar.

3) Der FDS basiert auf der Methode der Selbstbeurteilung und umfasst folgende Subskalen:

A) Amnesie,

→ B) Absorption,

→ C) Derealisation und

→ D) Konversion.

II: DSS-akut: (= Dissoziations-Spannungs-Skala akut) Ist ein Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung akuter dissoziativer Symptome. Zusätzlich werden subjektive Spannungszustände, die als aversiv empfunden werden, miterfasst.

III: SKID-D: (= Strukturiertes klinisches Interview für dissoziative StörungenEs handelt sich hierbei um ein halbstrukturiertes Interview, welches 277 Items zu persönlichen Daten, klinischer Vorgeschichte sowie zur dissoziativen Symptomatik beinhaltet. Zudem werden das Auftreten sowie der Schweregrad der 5 Hauptsymptome (Amnesie, Depersonalisation, Derealisation, Identitätssicherheit und Identitätsänderung) erfasst. Hier einige augewählte Interviewfragen aus dem SKID-D:

→ 1) Dissoziative Amnesie:

→ A) Haben Sie schon mal das Gefühl gehabt größere Gedächtnislücke aufzuweisen?

B) Gab es schon einmal einen umschriebenen Zeitraum, in dem Sie sich nicht an Ihre täglichen Aktivitäten erinnern können.

2) Dissoziative Fugue: Haben Sie sich jemals aus Ihrer bekannten Umgebung entfernt und konnten sich über den Zeitraum nicht mehr an Ihre Vergangenheit erinnern.

→ 3) Depersonalisation:

→ A) Hatten Sie schon einmal das Gefühl, außerhalb Ihres Körpers zu stehen.

→ B) Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, dass Sie sich selbst fremd sind bzw. Ihnen eine Körperregion unwirklich und befremdet erschien.

→ 4) Derealisation: Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, dass Ihnen Ihre vertraute Umgebung, Freunde und Bekannte als unwirklich und befremdet erschienen.

5) Dissoziative Identitätsstörung: Hat Ihnen schon mal jemanden gesagt, dass Sie eine andere Person zu seien scheinen etc.

784 Diagnosekriterien der dissoziativen Störungen nach ICD 10

 

  Differenzialdiagnose: Von der dissoziativen Störung abzugrenzen sind organische sowie psychische Erkrankungen.

→ I: Dissoziative Amnesie: Einige Symptome findet man auch bei der posttraumatischen Belastungsstörung, Amnesie nach SHT, Drogen- und Medikamentenintoxikation, bei der TIA sowie der transienten-globalen Amnesie. Hierbei handelt es sich um eine seltene, für eine über einen umschriebenen Zeitraum von 6-8 Stundenbestehende anterograde Amnesie. Sie tritt meist im Rahmen von Migräne- oder Spannungskopfschmerzen auf, die zu einer vorübergehenden Minderdurchblutung des Hippocampus führen. Weitere Symptome sind evtl. Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, eine psychiatrische Symptomatik fehlt gänzlich.

II: Dissoziative Fugue: Differenzialdiagnostisch muss hiervon die Epilepsie, Drogenintoxikation, Demenz, Schizophrenie oder eine bipolare affektive Störung abgegrenzt werden.

III: Dissoziativer Stupor: Ein stuporöser Zustand besteht auch der katatonen Schizophrenie, der Borderline-Persönlichkeitsstörung, PTBS und schwerer Depression.

→ IV: Dissoziative Störungen der Bewegung und Sinnesempfindungen: So können z.B. dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen oder dissoziative Bewegungsstörungen auch im Rahmen von somatoformen Störungen (z.B. Somatisierungsstörung), bei der Encephalomyelitis dissiminata und zerebrovaskulären Störungen auftreten.

760 Wichtige Kriterien der dissoziativen Störung gegenüber der Somatisierungsstörung

→ V: Trance-/Besessenheitszustände: Hiervon abzugrenzen sind alle delirante Störungen sowie Drogenintoxikationen.