Definition:

→ I: Die dissoziativen Störungen auf psychischer Ebene stellen im Vergleich zu den dissoziativen Störungen auf körperlicher Ebene ein psychiatrisches Krankheitsbild dar, bei der eine Desintegration von seelischen Funktionen (Verlust der persönlichen Daten, der Erinnerungen und des Identitätsbewusstseins) besteht.

→ II: Hierzu gehören:

1) Dissoziative Amnesie,

→ 2) Dissoziative Fugue,

→ 3) Dissoziativer Stupor,

→ 4) Trance- und Besessenheitszustände,

→ 5) Multiple Persönlichkeitsstörung.

 

  I:  Dissoziative Amnesie: Hierbei handelt es sich um Wissenslücken an persönlich relevanten Informationen, die in ihrem Ausmaß stark variieren (täglich, evtl. auch stündlich), in der Regel unvollständig sowie selektiv sind und sich nicht durch reine Vergesslichkeit oder Müdigkeit erklären lassen.

→ 1) Ätiopathogenese: Traumatisierende Ereignisse insbesondere in der Kindheit aber auch in Abhängigkeit von ihrer Häufigkeit und Schwere haben eine wichtige Bedeutung in der Entstehung der dissoziativen Amnesie.

→ 2) Klassifikation: Im Rahmen des Gedächtnisverlustes, hinsichtlich seiner Inhalte und Zeitabschnitte unterscheidet man folgenden Amnesieformen:

A) Selektive Amnesie: Die Erinnerungslücken beziehen sich auf bestimmte Inhalte (z.B. persönliche Daten).

→ B) Lokalisierte Amnesie: Sie betreffen umschriebene zeitliche Intervalle.

→ C) Generalisierte Amnesie: Sehr selten und kann das ganze Leben des Patienten betroffen sein.

→ 3) Diagnose: Nach ICD-10 besteht eine dissoziative Amnesie, wenn nachfolgende Kriterien zutreffen: 

562 Diagnosekriterien der dissoziativen Amnesie nach ICD 10

 4) Differenzialdiagnose: Von der dissoziativen Amnesie sind vor allem nachfolgende Erkrankungen abzugrenzen:

→ A) Metabolische Erkrankungen: Urämie, Hypoglykämie, Porphyrie (z.B. akute intermittierende Porphyrie, etc).

→ B) Neurologische Erkrankungen: Insbesondere das Schädel-Hirn-Trauma, die transiente ischämische Attacke (Eigenanamnese Eruierung einer Amaurosis fugax, Bewusstseinsminderung etc.) oder die transiente globale Amnesie.

→ C) Weitere psychiatrische Erkrankungen: Intoxikationen infolge von Alkohol, Benzodiazepinen, LSD, etc. Eine dissoziative Amnesie besteht auch im Rahmen der dissoziativen Fuguge und multiplen Persönlichkeitsstörung. Weitere Differenzialdiagnose sind u.a. die emotional instabile PS, posttraumatische Belastungsstörung etc. 

 

 II:  Dissoziative Fugue:

→ 1) Charakteristisch bei der dissoziativen Fugue ist, dass die Betroffenen plötzlich und unvorbereitet aber geordnet ihre gewohnte Umgebung und sozialen Kontakte über Tage bis Wochen aber evtl. auch über Monate und Jahre verlassen, um sich an einen neuen Standort zu begeben.

→ 2) Der gewählte Standort kann eine emotionale Bedeutung haben.

→ 3) Während des Intervalls wird eine neue Identität angenommen, die für den Alltag wichtigen Handlungen (Körperhygiene, Kaufen von Nahrungsmitteln, etc.) werden adäquat durchgeführt, jedoch besteht über den gesamten Zeitraum eine vollständige Amnesie.

 

Klinisch-relevant: Nach der ICD-10-Klassifikation besteht eine dissoziative Fugue, wenn:

→ A) Die Betroffenen den Ort über den normalen täglichen Aktionsbereich verlassen,

B) Die grundlegende Selbstversorgung und einfachen sozialen Interaktionen mit Fremden weiterhin bestehen und

→ C) Über das gesamte Zeitintervall eine dissoziative Amnesie herrscht.

 

III:  Dissoziative Stupor: 

→ 1) Der dissoziative Stupor ist gekennzeichnet durch eine deutliche Reduktion bzw. einen Verlust der willkürlichen Bewegungen (bei erhaltenem Muskeltonus), der Sprache (bis hin zum Mutismus) und Reaktionen auf äußere Reize (Licht, Geräusche, Berührungen, etc.). Charakteristisches klinisches Bild ist, dass neben der fehlenden Reaktion auf Ansprache und Berührung, das Bewusstsein eingeengt und in sich gekehrt ist. In schweren Fällen kann sich eine Harninkontinenz manifestieren. Es besteht ein direkter zeitlicher Zusammmenhang zwischen belastendem (konfliktreichem) Ereignis und Auftreten der Symptome. Nach Remission zeigt sich zumeist eine partielle oder komplette Amnesie über die Krankheitsepisode.

→ 2) Wichtige Diagnosekriterien des dissoziativen Stupors sind: 

563 Diagnosekriterien des dissoziativen Stupors nach ICD 10

→ 3) Differenziadiagnose:

→ A) Psychiatrische Erkrankungen: Der dissoziative Stupor kann isoliert oder im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. Borderline-PS auftreten. Des Weiteren können sich ähnliche Symptome auch bei der katatonen Schizophrenie, schweren Depression, Alkoholintoxikation, beim malignen neuroleptisches Syndrom und als katatoniforme Störung im Rahmen der Demenz manifestieren.

→ B) Internistische Erkrankungen: Wie die diabetische Ketoazidose, Addison-Krankheit, sowie die renale bzw. hepatische Enzephalopathie.

→ C) Neurologische Erkrankungen: Vom dissoziativen Stupor abzugrenzen sind neurologische Erkrankungen wie die intrazerebrale Blutung, intrakranielle Raumforderungen, aber auch die Meningoenzephalitis bzw. Enzephalitis und die Epilepsie im Sinne postiktaler Dämmerzustände.

 

IV: Dissoziative Trance- und Besessenheitszustände:

→ 1) Diese Störung ist in unseren Kulturkreisen nur selten anzutreffen. Die betreffenden Personen habe das Gefühl, ihre Identität verloren zu haben (sind z.B. der Überzeugung eine andere Person oder ein Geist zu sein). Auch ist das Bewusstsein bzw. die Wahrnehmung nur auf wenige Aspekte fokussiert und reduziert.

 

  Klinisch-relevant: Nicht selten erscheinen die in Trance befindlichen Patienten als seien sie besessen oder von einer höheren Macht okkupiert.

A) Klinisch kristallisiert sich eine monotone Mimik und Gestik sowie eine stereotype Sprache mit Wiederholung einzelner Elemente heraus.

→ B) Die Diagnose darf nur im Zustand der Trance gestellt werden und nicht durch z.B. religiöse Rituale erklärbar sein.

 

V: Multiple Persönlichkeitsstörung/ dissoziative Identitässtörung: 

→ 1) Das Charakteristikum der dissoziativen Identitätsstörung stellt das Vorhandensein von 2 oder mehr Persönlichkeiten in einem Individuum dar.

→ 2) Jedoch ist zu einem bestimmten festgelegten Zeitpunkt nur eine Persönlichkeit eruierbar. Die einzelnen Persönlichkeiten zeigen individuelle Verhaltensweisen, Erinnerungen und Persönlichkeitszüge auf und sind in der Regel voneinander vollständig abgespalten, sodass die einzelne Persönlichkeit nichts von der Existenz der anderen weiß. Bei der häufigsten Form mit 2 Persönlichkeiten ist zumeist eine der beiden dominant.

→ 3) Für die Entstehung dieser Erkrankung werden schwerste Traumata in der Kindheit angenommen, die durch massive Brutalität, Sadismus und körperliche bzw. sexuelle Misshandlung (z.B. Inzest) geprägt sind.

 

Klinisch-relevant:

→ A) Nach dem Traumata-Modell werden die einzelnen Persönlichkeiten als Bewältigungsstrategie für schwerste Erlebniszustände angesehen.

B) Die Existenz dieses Krankheitsbildes wird kontrovers diskutiert. 

 

→ IV: Sonstige dissoziative Störungen: Hierunter fällt nach ICD-10 das sogenannte Ganser-Syndrom: Es ist gekennzeichnet durch das demonstrativ wirkende Vorbeireden/-antworten des Betroffenen. So werden einfachste Rechenaufgaben falsch gelöst (1 + 2 = 7) oder Handlungen falsch ausgeführt (statt die Haare zu kämmen wird z.B. die Kleidung gekämmt). Gleichzeitig bestehen aber auch andere dissoziative Phänomene wie die dissoziative Amnesie für das eigene Verhalten. Diese Krankheitsbild ist sehr selten und tritt gerade im Zusammenhang mit Verhaftungen auf.