→ Definition: Bei der Digitalisintoxikation handelt es sich um eine Herzglykosid-Überdosierung mit konsekutiver Manifestation charakteristischer Symptome und einem deutlich erhöhten Digoxin- (0,8-2ng/ml)/Digitoxin-Serumspiegel (15-25ng/ml).
→ Klinisch-relevant: Die Herzglykoside haben eine geringe therapeutische Breite, sodass schon bei therapeutischen Serumspiegelkonzentrationen (gerade bei älteren und schlanken Patienten) Nebenwirkungen auftreten können. Der therapeutische Serumspiegel liegen bei:
→ A) Digoxin: Zwischen 0,8-2ng/ml und
→ B) Digitoxin: Zwischen 10-30ng/ml.
→ Ätiologie:
→ I: Iatrogen, suizidal, fehlende Compliance bei älteren Patienten.
→ II: Nichtbeachtung der Kontraindikationen wie z.B. bradykarde Rhythmusstörungen, Sick-Sinus-Syndrom, höhergradige SA-Blockierung, AV-Block, Hyperkalzämie, Hypomagnesiämie, Hypokaliämie, frischer Myokardinfarkt, Myokarditis etc.
→ III: Zustände mit verminderter Glykosidverträglichkeit wie höheres Lebensalter (verminderte Muskelmasse), Leberinsuffizienz bei Digitoxin und Niereninsuffizienz (verminderte glomeruläre Filtrationsrate) bei Digoxin, Lungenerkrankungen mit Hypoxämie, KHK, etc.
→ Klinik: Klinische Symptome können auch bei therapeutischen Serumspiegeln auftreten.
→ I: Leichte Intoxikation: Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe (vermittelt über spezifische Chemorezeptoren in der Medulla oblongata), Kopfschmerzen, Schwindel, leichte Verwirrtheit sowie Seh- und Farbsehstörungen (Gelbsehen).
→ II: Schwere Intoxikation:
→ 1) Kardiale Rhythmusstörungen:
→ A) Durch die negativ dromotrope Wirkung der Herzglykoside Ausbildung bradykarder Rhythmusstörungen, wie Sinusbradykardie, AV-Block I.-III.Grades (EKG-Befund: AV-Block).
→ B) Durch die positiv-bathmotrope (Steigerung der Erregbarkeit) Wirkung und Zunahme ektoper Erregungsbildungen können sich tachykarde Rhythmusstörungen wie supraventrikuläre Extrasystolen (EKG-Befund: Supraventrikuläre Extrasystolen), supraventrikuläre Tachykardien, ventrikuläre Extrasystolen, ventrikulärer Bigeminus und ventrikuläre Tachykardien bis hin zum Kammerflimmern entwickeln.
→ C) Neurotoxische Störungen: Mit Zunahme der psychotischen Symptome, Ausbildung von Halluzinationen, Delir, Bewusstseinsstörungen und Koma.
→ Klinisch-relevant:
→ A) Vorhoftachykardie mit AV-Block II. Grades (EKG-Befund: AV-Block) tritt häufig bei Digitalisintoxikation auf.
→ B) Komplikationen wie ventrikuläre Tachyarrhythmien, Hyperkaliämie und Azidose gelten als prognostisch ungünstige Zeichen.
→ Diagnose:
→ I: Mit Hilfe eines spezifischen Immunoassays lässt sich die Plasmakonzentration der Herzglykoside gut bestimmen.
→ II: Zuverlässige Konzentrationen lassen sich erst 6-8 Stunden nach Einnahme (Verteilungsphase des Medikaments) bestimmen.
→ III: Bei einem Serumspiegel von > 2-3ng/ml Digoxin/ > 40ng/ml Digitoxin ist mit klinischen Symptomen zu rechnen.
→ IV: EKG: Bei der Herzglykosidintoxikation lässt sich elektrokardiographisch eine charakteristische muldenförmige ST-Strecken-Senkung nachweisen. Des Weiteren sind u.a.:
→ 1) T-Wellen-Abflachung bis T-Negativierung,
→ 2) Eine PQ-Verlängerung und
→ 3) Eine verkürzte QT-Zeit nachweisbar.
→ Therapie:
→ I: Allgemeinmaßnahmen:
→ 1) Sofortiges Absetzten der Herzglykoside.
→ 2) Gabe von Aktivkohle, bei Digitoxin zusätzlich noch Colestyramin, evtl. vorherige Magenspülung.
→ 3) Anheben des Kaliumspiegels auf hochnormale Plasmakonzentrationen (4,5-5,5mmol/l) mit einer Dosierung von max. 20mmol/h intravenös.
→ Klinisch-relevant: Bei Anlage einer Magensonde besteht die Gefahr der Vagusstimulation mit konsekutiver Bradykardie/Asystolie durch Manipulation im Rachenbereich. Präventiv wird Atropin appliziert bzw. ein Schrittmacher angelegt.
→ II: Medikamentöse Therapie der Rhythmusstörungen:
→ 1) Bradykardie: Applikation von 0,5-1mg Atropin langsam i.v., bei Erfolglosigkeit ist eine temporäre Schrittmacher-Therapie indiziert.
→ 2) Tachykarde, ventrikuläre Rhythmusstörungen werden mittels Lidocain 100mg langsam i.v. (evtl. nach 15min Wiederholung) behandelt, bei Therapieresistenz Gabe von Phenytoin 125-250mg. Bei Kreislaufinstabilität sollte eine Kardioversion erfolgen.
→ 3) Kammerflimmern: Hier ist eine kardiopulmonale Reanimation bzw. eine Defibrillation indiziert.
→ III: Spezielle Maßnahmen: Bei schwerer Digitalisintoxikation wird Digitalis-Antitoxin (= Digitalis-Antidot BM) verabreicht. Hierbei handelt es sich um Digoxin-Antikörperfragmente (Fab-Fragment eines spezifischen Digitalis-IgG-Ak), die vom Schaf gewonnen werden.
→ 1) Wirkungsmechanismus: Es bindet freies Glykosid im Extrazellularraum. 80mg Antidot bindet 1mg Digoxin/Digitoxin zu einem unwirksamen AK-Glykosid-Komplex.
→ 2) Dosierung: 6x 80mg Digitalis-Antidot-BM nach vorheriger intrakutaner Allgergie-Testung
→ 3) Nebenwirkungen: Anaphylaktischer Schock.
→ Klinisch-relevant:
→ A) Eine Kalziumgabe ist bei der Intoxikation mit Herzglykosiden kontraindiziert.
→ B) Innerhalb von 1-3 Stunden nach Antidot-Gabe sollte sich die kardiale Intoxikationssymptomatik bei ausreichender Dosierung zurückbilden (EKG-Erfolgskontrolle).
→ C) Evtl. Hämodialyse oder Hämoperfusion mit beschichteter Aktivkohle (wirkt nur bei Digitoxin).