Definition: Beim Alkoholentzugssyndrom handelt es sich um eine charakteristische Symptomkonstellation, die sich aufgrund einer absoluten oder relativen Abstinenz entwickelt. Es ist die häufigste neuropsychiatrische Folgeerkrankung der chronischen Alkoholabhängigkeit.

 

Ätiologie: In einem Zeitintervall von 4-24 Stunden nach Alkoholabstinenz (bzw. bereits nach Absinken des Alkoholspiegels) entwickeln sich vegetative Entzugssymptome, die ca. 3-7 Tage, in seltenen Fällen auch bis zu 14 Tagen anhalten.

 

Pathophysiologie:

→ I: Aktivierung des sympatho-adrenergen Systems mit Ausbildung vegetativer Entzugssymptome durch Enthemmung des noradrenergen Nucleus coeruleus.

II: Wegfallen des zentralnervös-inhibitorisch, GABAerg-wirkenden Alkohols mit nachfolgender Überstimulation der glutaminergen Kortex.

 

Klinik:

→ I: Gastrointestinal: Magen-Darm-Störungen, vor allem stehen Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe im Vordergrund.

→ II: Kardiovaskulär: Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, arterielle Hypertonie, Tachypnoe,

→ III: Vegetativ: Hyperhidrosis, feinschlägiger Tremor, Anstieg der Körpertemperatur.

→ IV: ZNS-Symptome: Psychomotorische Unruhe, Schlafstörungen (insbesondere auch Insomnie), affektive Labilität mit depressiver oder dysphorischer Verstimmung, Ängste, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie erhöhte Ablenkbarkeit. Das Auftreten von Bewusstseinsstörungen sowie akustischen und/oder optischen Illusionen spricht für einen schweren Entzugsverlauf. Weitere neurologische Symptome sind Kopf- und Muskelschmerzen, Parästhesien sowie Artikulationsstörungen und Ataxie.

744 Graduierung des Alkoholentzugssyndroms

 

Komplikationen:Wichtige und zum Teil schwerwiegende Komplikationen des Alkoholentzugssyndroms sind insbesondere:

 → I: Auftreten von generalisierten Krampfanfällen (grande-mal). Diese bilden sich in 85% der Fälle in den ersten 6 Stunden nach Abstinenz aus (das Krampfanfallrisiko ist in den ersten 2 Tagen nach Abstinenz am höchsten).

II: Übergang in ein Alkoholdelir.

 

→ Diagnose: Bei der Diagnose des Alkoholenzugssyndroms stehen insbesondere die Anamnese, einschließlich der Fremdanamnese sowie die klinische Untersuchung im Vordergrund: 

→ I: Anamnese: Hierbei stehen insbesondere Fragen zur eigenen Person (z.B. Wie heißen Sie? Wie alt sind Sie? etc.), zur Situation und Orientierung (z.B. Wissen sie, wo Sie sind? Wissen Sie, welcher Tag heute ist? etc.) sowie Fragen zum Alkoholkonsum (fremdanamnestische Verifizierung) im Fokus.

→ II: Klinische Untersuchung: Es erfolgt u.a. die Bestimmung:

→ 1) Der Vitalfunktion (Puls, arterieller Blutdruck, Temperatur und Atmung),

→ 2) Alkoholspiegels in der Ausatemluft und/oder Blut sowie

→ 3) Weiterer Laborparameter wie Blutbild, Elektrolyte (Na+, K+, Ca2+), BZ, yGT, GOT, GPT, Quick, Kreatinin und TSH.  

 

→ Differenzialdiagnose: Vom Alkoholentzugssyndrom sollten nachfolgende Erkrankungen abgegrenzt werden. Hierzu zählen:

→ I: Pathologischer Rausch: Entsteht unabhängig von der Alkoholkonzentration im Blut und ist durch einen Dämmerzustand mit Erregtheit, Aggressivität, Halluzinationen und anschließender Amnesie charakterisiert.

→ II: Bei der Alkoholhalluzinose bestehen vor allem akustische Halluzinationen über Wochen und Monate, die vegetativen Begleitsymptome sind in der Regel nicht vorhanden oder nur gering ausgebildet.

→ III: Halluzinationen organischer Genese: Insbesondere bei entzündlichen oder neoplastischen Gehirnprozessen.

→ IV: Sinnestäuschungen im Rahmen einer Schizophrenie

 

Therapie:

→ I: Allgemein: In 30-50% der Fälle müssen Patienten mit einem einfachen Alkoholentzugssyndrom und jeder Patient mit einem Alkoholdelir medikamentös therapiert werden.

II: Medikamentöse Therapie:

→ 1) Bei unkompliziertem Alkoholentzugssyndrom ist das Mittel der 1. Wahl das Clomethiazol (Distraneurin).

→ 2) Bei Unverträglichkeit und jedem Delir wird eine Benzodiazepin -(z.B. Diazepam)-Applikation empfohlen. 

→ 3) Bei psychotischen Symptomen sollte zusätzlich ein Antipsychotikum wie z.B. Haloperidol (5-10mg/d) aufgrund seiner geringen/fehlenden krampfauslösenden Wirkung verabreicht werden.

→ 4) Insbesondere bei bekanntem Anfallsleiden wird Carbamazepin (Aufdosierung 1. Tag 2x 200mg, 2.Tag 2x 400 mg über eine Woche) appliziert.

→ 5) Zur Dämpfung des sympatho-adrenergen Systems ist die Gabe eines zentralen Alpha-2-Rezeptoragonisten z.B. Clonidin indiziert.

 

 Klinisch-relevant: Bei schwerem Alkoholentzugssyndrom und dem Alkoholdelir wird, um die Entwicklung eines Korsakow-Syndroms bzw. Wernicke-Enzephalopathie zu vermeiden, Vitamin B1 (Thiamin) in einer Dosis von 3x 100mg oral oder i.v. verabreicht.

308 Therapie des leicht  bis mittelgradigen Alkoholentzugssyndroms

 

→ Clomethiazol:

→ I: Dosierung: Initialer Beginn mit 2-4 Kapseln (192mg/Kapsel). Bleibt die sedierende Wirkung nach 30-60min aus, kann langsam bis zu einer Maximaldosis von 24 Kapseln/d unter Kontrolle der Vitalfunktionen, aufdosiert werden. Die Vitalfunktionskontrolle erfolgt über den sogenannten Alkoholentzugssymptombogen (AESB). Hierbei werden alle 2 Stunden die Vitalfunktionen, insbesondere

→ 1) Puls,

→ 2) Arterielle Blutdruck (RR),

→ 3) Atemfunktion, aber auch

→ 4) Bewusstseinslage und

→ 5) Psychisches Befinden eruiert.

→ II: Empfohlene Dosierung:

→ 1) Tagsüber: 3 x 2 Kapsel Clomethiazol,

→ 2) Nachts: 2x 2 Kapseln.

→ III: Die Therapiedauer von Clomethiazol darf maximal 2 Wochen betragen.

IV: Eine Behandlung mit Clomethiazol sollte aufgrund des hohen Abhängigkeitspotenzials nur stationär durchgeführt werden.